Ist weniger am Ende mehr?
Ulf Meyer
31. März 2023
Foto: © tschinkersten fotografie, 2022
Wie viel Wohnraum brauchen wir wirklich? Und welche Räume sind wir bereit, mit unseren Nachbarn zu teilen? Die Büros AllesWirdGut und laser architekten haben diese Fragen mit einer Wohnüberbauung in Hannover ausgelotet.
Als das Wiener Büro AllesWirdGut gemeinsam mit laser architekten aus dem deutschen Langenhagen 2014 den Wettbewerb für ein neues Wohnquartier in Hannover gewann, ging es vor allem darum, leistbare und zeitgemäße Wohnungen zu schaffen. Die Bauherrschaft, das Wohnungsbauunternehmen Gundlach, wollte auf dem Grundstück keine weitere Einfamilienhaussiedlung bauen. Stattdessen sollten kompakte Familien- und Seniorenwohnungen entstehen, die aufgrund ihrer Kleinheit bezahlbar sind. Schlussendlich verwirklicht wurden zehn Häuser mit insgesamt 42 1- bis 4-Zimmer-Mietwohnungen, deren Wohnfläche durchschnittlich 70 Quadratmeter beträgt. Auf in Deutschland sonst übliche Annehmlichkeiten wie eine eigene Waschmaschine in jeder Wohnung wurde bewusst verzichtet, um Platz zu sparen. Fünf Gemeinschaftsräume entschädigen die Bewohnenden für ihren Verzicht auf Raum zugunsten des Kollektivs: Eine Gästewohnung, ein Kinderspielraum, zwei sogenannte Wasch-Cafés und eine Werkstatt ergänzen die Wohnungen.
Ende 2019 wurde die Anlage fertiggestellt und bezogen. Nun dokumentieren neue Fotografien ihren Zustand in der Benutzung.
Immer zwei Häuser sind über eine gemeinsame Laubengangerschließung miteinander verbunden. Sie fassen einen halbprivaten Hofraum. Die Außenräume sollen die Kleinheit der Wohnungen wettmachen. (Foto: © tschinkersten fotografie, 2022)
Foto: © tschinkersten fotografie, 2022
Ein öffentlicher Erschließungsraum durchzieht die Anlage, die aus fünf Zweierkombinationen von Wohnhäusern besteht. (Foto: © tschinkersten fotografie, 2022)
Foto: © tschinkersten fotografie, 2022
Die Dorfgemeinschaft als InspirationDie zehn Häuser des Wohnquartiers Teilerhöfe stehen auf einem 6'000 Quadratmeter großen Grundstück in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Die Gebäude sind so angeordnet, dass immer zwei über einen gemeinsamen Laubengang miteinander verbunden sind und einen halbprivaten Hofraum bilden. Inspiriert ist diese Anordnung von der traditionellen Typologie der Hofstelle, die aus einer Scheune und einem Wohnhaus besteht. Zwischen den fünf Zweierkombinationen fließt die öffentliche Erschließung, der sogenannte Anger. Diese Konfiguration soll aber nicht nur die Gemeinschaft stärken, sondern ermöglichte auch, den wertvollen Baumbestand auf dem Grundstück zu erhalten. Damit sie funktioniert und die Außenräume, die vom einheimischen Büro Chora Blau Landschaftsarchitektur geplant wurden, tatsächlich zu »Wohnzimmern im Freien« werden, wurden Autos aus der Anlage verbannt.
Die Anordnung der Bauten erlaubte, den wertvollen Baumbestand auf dem Grundstück zu erhalten. Die Architekten sehen in ihm einen wichtigen Identifikationsfaktor. (Foto: © tschinkersten fotografie, 2022)
Foto: © tschinkersten fotografie, 2022
Foto: © tschinkersten fotografie, 2022
Die Erschließungszone als GemeinschaftsraumDie offenen Treppenhäuser, die wie auch die Dachböden unbeheizt sind, stehen neben den Häusern. Die Erschließungsflächen sollen als Treffpunkte dienen und den Austausch der Bewohnenden untereinander fördern – eine bewährte Idee, die nicht mehr neu ist und vielerorts umgesetzt wird, besonders häufig bei Wohnanlagen in der Schweiz. Im Erdgeschoss sind die Bauten jeweils barrierefrei organisiert, um dem Wunsch nach einer generationenübergreifenden Nachbarschaft zu entsprechen.
Die Fassaden der Satteldachhäuser sind anthrazitfarben und bestehen aus vertikalen Holzlamellen, die auf der Außenseite der Dämmung montiert sind. Die Innenfassaden der Laubengänge und die Schmalseiten hingegen sind weiß. Die Architektursprache wirkt wie die Setzung von ländlichen Bauten inspiriert.
Foto: © tschinkersten fotografie, 2022
Die Sonne kurbelt das Sozialleben anDie Wohnanlage des österreichisch-deutschen Gestalterteams zeigt Potenzial und Limiten der Idee auf, persönlichen Wohnraum gegen Flächen für das Kollektiv einzutauschen: An schönen Sommertagen entschädigen die schönen Außen- und Gemeinschaftsräume sicher vollauf für den Verzicht. Doch was geschieht an grauen, norddeutschen Wintertagen, wenn der Aufenthalt im Freien weniger einladend ist und alle Bewohnenden die Gemeinschaftsräume drinnen belagern? Sind die Mieter*innen in ihrer Bescheidenheit auch dann zufrieden?
Gezeigt wird die Anlage jedenfalls stets an warmen Tagen. In einem Werbevideo, das auf der Plattform Vimeo verfügbar ist, bestätigen die Bewohnenden, dass das Sozialleben, für das sie die Siedlung lieben, vor allem im Frühjahr und Sommer in Gang kommt.
Situation (© AllesWirdGut mit laser architekten)
Erdgeschossgrundrisse der Häuser (© AllesWirdGut mit laser architekten)
Illustration zum Konzept der Wohnanlage (© AllesWirdGut mit laser architekten)
Die ETH-Professorin Elli Mosayebi hat mit uns über Geschichte und Zukunft des Wohnens gesprochen. Zum Interview