Kathrin Aste und Frank Ludin sprachen mit Elias Baumgarten über ihre Inspirationsräume, die Überregulierung der Bauwirtschaft und das Wettbewerbswesen.

Lust auf viel mehr

20. Dezember 2019
Von links nach rechts: Daniel Luckeneder (Partner), Kathrin Aste und Frank Ludin (Foto © Marc Lins)
Inspiration und Lehrer

Elias Baumgarten: Architekt*innen haben es bisweilen gar nicht gerne, wenn man sie nach Vorbildern fragt oder gar Strömungen zuordnen möchte. Und trotzdem: Ich lese eure Projekte – den Innsbrucker Landhausplatz (2010) zum Beispiel, die Aussichtsplattform »Top of Tyrol« im Stubaital (2009) oder die Skisprungschanze im kasachischen Nur-Sultan (Astana), um einige zu nennen – als Fortsetzung einer österreichischen Traditionslinie von der Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre bis heute. Alle Gestalter*innen innerhalb dieser brechen aus dem Kanon simpler, oft rechtwinkliger Geometrien aus, nicht aus Verspieltheit, Freude am Neuen oder formalem Selbstzweck, sondern weil sie damit Hoffnungen auf eine freiere, kreativere Gesellschaft verknüpfen. Seht ihr einen solchen Zusammenhang?

Kathrin Aste: Ja, schon! Ein wichtiger Ausgangspunkt waren anfangs der 1960er-Jahre die Wiener Aktionisten, deren Ideen in den Projekten und Entwürfen von Coop Himmelb(l)au, Haus-Rucker-co, Zünd-up und Hans Hollein ihren architektonischen Ausdruck fanden. Neben der Szene in Wien waren vor allem die Protagonisten der »Grazer Schule« wie Günther Domenig, Volker Giencke und Helmut Richter wichtige Vorbilder für uns. Giencke wechselte später nach Innsbruck und wurde unser Professor; er ist sicherlich die prägendste Figur für uns. Viele Jahre lang habe ich am ./studio3 (Institut für experimentelle Architektur der LFU Innsbruck) an seiner Seite unterrichtet. 
Zwischen all diesen Protagonisten gab es – da hast du recht – eine gewisse Nähe und mitunter formulierten sie ähnliche Ansprüche. Dennoch war ihre Herangehensweise je unterschiedlich: Während Wolf Prix und Günther Domenig eine dekonstruktivistische Architekturauffassung vertraten, verfolgten Volker Giencke und auch Helmut Richter, der damals in Wien arbeitete, einen feinsinnigen, technologischen Ansatz und pflegten einen raffinierten Umgang mit Materialien.

Frank Ludin: Natürlich gab es in den zehn Jahren, die wir nun zusammenarbeiten, noch viele weitere Einflussfaktoren: In den 2000er-Jahren interessierten wir uns zum Beispiel auch für die niederländischen Architekt*innen mit ihren Entwürfen, die sie aus dem einfachen Diagramm entwickelten.
Aber auch die frühen Projekte und Zeichnungen von Zaha Hadid oder Bauten wie das Yokohama Terminal von Foreign Office Architects weckten unser Interesse. Denn bei diesen Arbeiten wurde Architektur nicht länger als Gefäß, sondern als fließende Landschaft gedacht. Das machte Eindruck auf uns, diesen Gedanken griffen wir auf und entwickelten ihn weiter. Ein Beispiel dafür ist der angesprochene Landhausplatz. Das Aufkommen parametrischer Modelle, die für uns heute ein wichtiger Teil des kreativen Prozesses sind, hat dabei sehr geholfen. 

LAAC mit Stiefel Kramer Architecture und Christopher Grüner, Landhausplatz (Eduard-Wallnöfer-Platz), Innsbruck, 2010 (Foto © Günter Richard Wett)

EB: Auf deinem Schreibtisch, Frank, sehe ich die Ausgabe »Rückzug« der archithese liegen. Das Heft sieht aus, als hättest du es intensiv gelesen und durchgearbeitet. Wie wichtig sind Lesen und Architekturtheorie für eure Arbeit?

FL: Lesen und sich fortzubilden ist uns sehr wichtig! Man muss zusehen, dass man sich auf dem Laufenden hält. Der Architekturdiskurs tendiert dazu, breiter zu werden. Uns ist hier eher die Tiefe wichtig.

KA: Die guten Architekturmagazine wie Arch+ oder archithese sind heute an den Universitäten leider viel weniger präsent als früher. Zu unserer Studienzeit waren sie die Architekturzeitschriften im deutschen Sprachraum. Diese Rolle haben sie zwischenzeitlich eingebüßt. Dabei leisten sie einen wichtigen Beitrag. Schöne Bilder alleine reichen nicht, es geht mehr und mehr wieder um Inhalte. Gerade bei der vorherrschenden Diversität ist ein lebendiger und reflektierter Architekturdiskurs sehr wichtig. 

»P2 Urbaner Hybrid«, Stadtbibliothek Innsbruck mit Gastro- und Wohnflächen, 2018 (Foto © Marc Lins)
»P2 Urbaner Hybrid« (Foto © Marc Lins)
Ausgebremst

EB: Gerne möchte ich nochmals auf den Landhausplatz zurückkommen. Ihr habt ihn unter Verwendung parametrischer Werkzeuge, aber auch physischer Modelle und Zeichnungen entworfen. Die Betonelemente wurden im Sinne des Design-to-Production-Ansatzes auf Grundlage des 3D-Modells produziert. Das ist nun schon zehn Jahre her. Doch noch immer wird diese Methode vielfach als Neuheit angepriesen. Warum finden technische Innovationen derart stockend den Weg in die Praxis?

KA: Zwar ist technologisch mittlerweile enorm viel möglich, doch sind die Anforderungen am Bau zugleich extrem hoch. Die notwendigen Experimentierfelder gibt es heute kaum noch. Architektur muss man im Maßstab 1:1 testen – wie zum Beispiel bei den Case Study Houses (1945–1966) in Los Angeles. Wir können nicht im geschützten Umfeld eines Labors forschen wie Naturwissenschaftler*innen. Experimentelle Bauten müssen benutzt werden, sie müssen im Freien stehen und Wind und Wetter ausgesetzt sein. Dafür gibt es derzeit leider weder die richtigen Bauherrschaften noch die passenden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen.

FL: Oder anders gesagt: Die zunehmenden Einschränkungen durch die Gesetzgebung und verschärfte Haftungsregelungen sind hochgradig innovationsfeindlich. Wir würden uns hier mehr Vertrauen in die Eigenverantwortung der Gesellschaft und mehr Mut bei den politischen Entscheidungsträger*innen wünschen.

KA: Genau! Um architektonische Lösungen für die aktuellen Probleme etwa im Wohnbau anbieten zu können, bedarf es endlich wieder mehr Mut zu Projekten, die nicht alle Normen und Standards erfüllen. Man muss sich nicht wundern, dass es derzeit weder technologisch noch gestalterisch vorangeht.

FL: Überspitzt gesagt, stecken wir durch die übermäßige Reglementierung und die extrem scharfe, ja oft kleinliche Auslegung von Gesetzen in einer Innovationskrise. Im Falle einer Klage steht heute schnell die Existenz des eigenen Büros auf dem Spiel – da wird man vorsichtiger. Und Österreich tut sich in Sachen Normierung leider besonders hervor: Früher waren wir bekannt für unsere Baukultur, heute sind wir Weltmarktführer in Sachen Normierung. Eine Vielzahl der aktuell in Europa gültigen Regeln basiert auf den OIB-Richtlinien.

»Stadtnaht Dornbirn«, 2017 (Foto © Marc Lins)
MPREIS Weer, 2017 (Foto © Marc Lins)

EB: Kritik zu üben ist gut und wichtig – doch was kann man unternehmen, um auf eine Verbesserung hinzuwirken?

KA: Wir engagieren uns in der Kammer sowie im aut. architektur und tirol und lehren und forschen an Universitäten. Vergleichsweise viel Raum zum Experimentieren bieten temporäre Bauten, für die – zumindest noch – weniger strenge Auflagen gelten. Am ./studio3 der Architekturfakultät Innsbruck nutzen wir dieses Potenzial immer wieder. Ein sehr gelungenes und auch bekanntes Beispiel ist die Kunst- und Architekturschule »Bilding« (2015) für Kinder und Jugendliche, die mit Student*innen entworfen und gebaut wurde. Das Konzept ist aufgegangen, die Räume sind schön, funktionieren und der Bau wurde sofort von den Kindern angenommen, sie fühlen sich darin wohl. Mit solchen Projekten kann man aufzeigen, was möglich wäre. Leider ist der Einfluss der Architekturszene begrenzt. Die wesentlichen Entscheider*innen finden sich vor allem in der Politik. Die Gesetze müssten dringend entschlackt werden – das sagen auch Jurist*innen. Ich denke, die nordeuropäischen Länder sind uns da voraus.

»Thoughts From Matter«, Rauminstallation im Österreichischen Pavillon, 16. Architekturbiennale von Venedig, 2018 (Foto © Marc Lins)
Von Qualitätssicherung und Chancengleichheit

EB: Neben der Normierung ist das Wettbewerbswesen eines der meistdiskutierten Themen in Österreich. Viele Gestalter*innen beklagen, es gebe zu wenig offene Verfahren und daher ungleiche Chance, was zum besonderen Nachteil junger Architekt*innen sei.

KA: Offene Wettbewerbe sind eine super Sache. Wir haben als junge, unbekannte Architekten gleich gemeinsam mit Stiefel Kramer und dem Künstler Christopher Grüner jenen um die Gestaltung des Landhausplatzes gegen stärkste Konkurrenz gewonnen. Das hat unserer Karriere extrem geholfen. Aber auch geladene Wettbewerbe von privaten Bauherr*innen sind ein wichtiges Instrument zur Qualitätssicherung.

FL: Es bedarf einer Vielfalt verschiedener sinnvoll abgestimmter Verfahren. Es gibt Bauaufgaben, bei denen spezifisches Vorwissen zwingend erforderlich ist; da manchen Bewerbungsverfahren oder auch geladene Wettbewerbe Sinn. Hingegen in anderen Fällen ist ein offener Wettbewerb der richtige Weg.
Offene Verfahren bieten im Idealfall den großen Vorteil der Chancengleichheit. Ich persönlich denke allerdings, dass sie nicht zum einzigen Format werden sollten. Denn vergessen wir bei aller Begeisterung nicht, dass Wettbewerbe uns schon jetzt vor große ökonomische Herausforderungen stellen. Wir müssen aufpassen, dass wir kein System fördern, das uns Architekt*innen nachhaltig ausbeutet. 

KA: Eine der schwierigsten Entwicklungen bei Architekturwettbewerben ist der mittlerweile weit verbreitete Irrglaube, man könne sich als Bauherr*in über sie fix fertige, direkt baubare Projekte beschaffen. Und wir Architekt*innen sind an dieser Haltung gewiss nicht unschuldig. Heute muss man oftmals detaillierte Kostenaufstellungen und Haustechnikplanungen abgeben, demnächst am besten noch ein BIM-Modell (Building Information Modelling). Konzepte hingegen interessieren kaum noch. Zusehends wird vergessen, dass Konkurrenzverfahren künstlerische Ideenwettbewerbe sind. Es geht darum, das beste architektonische Konzept zu finden! Und das wird dann beauftragt. Danach beginnt erst der Planungsprozess – natürlich unter Einbezug der Bauherrschaft. Alles andere ist Unfug. Geht diese Entwicklung weiter, taugen Wettbewerbe bald nicht mehr zur Sicherung baukultureller Qualität.
Vor diesem Hintergrund sehe ich auch bedingt nicht anonyme Verfahren als Möglichkeit. Insbesondere komplexe Aufgabenstellungen und Ansätze können nicht allein über die abgegebenen Unterlagen verständlich vermittelt werden – es bedarf der persönlichen Präsentation und Erklärung. Andernfalls werden am Ende die wichtigsten und interessantesten Themen nicht besprochen, das Projekt wird zur Interpretation Dritter und die konzeptionelle Arbeit unter Umständen bedeutungslos. Das sollte nicht sein!

Kathrin Aste hat in Innsbruck Architektur studiert. 2009 gründete sie gemeinsam mit Frank Ludin das Büro LAAC in der Tiroler Landeshauptstadt. Von 2000 bis 2004 und von 2006 bis 2010 war sie Assistentin am Institut für experimentelle Architektur der LFU Innsbruck (./studio3). Seit 2011 ist sie Dozentin für Entwurf an der Universität Liechtenstein. 2014 bis 2018 war sie Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Seit 2018 hat sie eine Professur an der LFU Innsbruck inne und leitet das ./studio3.
 
Frank Ludin stammt aus Weil am Rhein. Er studierte Architektur in Innsbruck und war von 2004 bis 2007 Assistent am Institut für experimentelle Architektur.hochbau der LFU. Seither war er Gastkritiker an verschiedenen Universitäten und unterrichtete an der LFU Innsbruck sowie im Rahmen des Universitätslehrgangs »überholz« an der Kunstuniversität Linz. Zusammen mit Kathrin Aste und in Kooperation mit alpS arbeitete er 2012 am Forschungsprojekt »Sustainable Design of Alpine Infrastructure«.

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