Wiens neues Vorzeige-Wohnquartier

Ulf Meyer
14. April 2023
Foto: Daniel Hawelka

In Europas Großstädten kommen nur noch selten große Baugrundstücke auf den Markt. Viele Flächen, die das Militär und die Industrie zurückließen, sind bereits in den 1990er- und 2000er-Jahren bebaut worden. Doch in Wien verfügten die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) noch über ein solch rares Filetstück: ein weitläufiges Grundstück an der Käthe-Dorsch-Gasse im 14. Gemeindebezirk nämlich, das sie betrieblich nicht mehr benötigten.

Um die Fläche zwischen der Westbahnstrecke und der Wiener Westausfahrt zu überbauen, lobten die ÖBB Immobilienmanagement GmbH und der wohnfonds_wien 2018 einen Bauträgerwettbewerb aus. Durchsetzen konnte sich schließlich der gemeinnützige Bauträger WBV-GPA (Wohnbauvereinigung für Privatangestellte) mit seinen Plänen für ein 30'000 Quadratmeter großes Wohnquartier. Die Wientalterrassen, wie die Anlage genannt wird, wurden von einem Team aus den einheimischen Architekturbüros Berger+Parkkinen (Bauteil 2) und Christoph Lechner & Partner (Bauteil 1 und 3) entworfen. 

Die Herausforderung für die Gestalter*innen bestand darin, kostengünstige Wohnmodelle zu entwickeln, die auf unterschiedliche Lebensstile eingehen und für Alleinerziehende in besonderem Maße geeignet sein sollten. Dazu war ein eigenständiges, nachhaltiges Energiekonzept gefragt, denn die Anlage war als Vorbild in Sachen ökologische Nachhaltigkeit gedacht. Auch die Lage des Bauplatzes unmittelbar am Gleisfeld machte das Großprojekt zu einer anspruchsvollen Architekturaufgabe. 2020 rollten die Bagger an, vor Kurzem zogen die Mieter*innen ein.

Foto: Daniel Hawelka
Foto: Wolfgang Thaler

Insgesamt umfasst die Überbauung 295 Wohnungen. 196 davon sind geförderte Mietwohnungen, bei 99 handelt es sich um Kleinwohnungen. Weiters beinhaltet das Projekt zwei Wohngemeinschaften für Kinder und Jugendliche, zwei betreute Garconniere-Verbünde für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, ein Generationen verbindendes Tageszentrum des Kuratoriums Wiener Pensionisten-Wohnhäuser sowie ein weiteres Tagesbetreuungszentrum für Rollstuhlfahrer*innen, die nicht in der Anlage leben. Darüber hinaus wurden auch noch Büroräume in die Überbauung integriert.

Das Ensemble weist einen kammförmigen Fußabdruck auf. Es besteht aus drei Baukörpern quer zum Wienfluss, die durch Bauteile längs zum Fluss miteinander verbunden sind. Der lange »Rücken« an der Nordseite grenzt direkt ans Gleisfeld, es gibt dementsprechend aus Gründen des Lärmschutzes keine nach Norden orientierten Wohnungen. Die teils offenen und teils geschlossenen Höfe eignen sich zur Kommunikation und Interaktion im Freiraum. Um indes die Lage im Tal der Wien räumlich erlebbar zu machen, sind die Bauten in der Höhe gestaffelt: Über den niedrigeren Bauteilen im Süden liegen die namensgebenden Terrassen für die Bewohner*innen. 

Foto: Daniel Hawelka
Foto: Wolfgang Thaler
Foto: Wolfgang Thaler

Damit die Wohnungen flexibel angepasst werden können, wurden sie ausschließlich mit Leichtbauwänden unterteilt. »Schalträume« können ihnen ohne großen baulichen Aufwand bei Bedarf zugeschlagen werden. Wenn die Mieter*innen sich entschließen, sogar die Trennwand zwischen Wohn- und Schlafraum zu entfernt, entsteht eine Art Loft.

Architekt*innen und Bauherrschaft haben, wie eingangs erwähnt, in besonderem Maße auf die Umweltfreundlichkeit geachtet: Sie haben ein Energiekonzept auf Basis des Niedrigstenergiehausstandards entwickelt, das eine Wärme- und Kälteversorgung mit erneuerbaren Energien, die auf dem Grundstück gewonnen werden, ermöglicht. So verfügt die Überbauung über eine Geothermie- und eine Solarabsorberanlage sowie drei Wärmepumpen. 64 Tiefensonden wurden in den Baugrund gegraben. Die Betonteile sind thermisch aktiviert, im Winter kann also über sie geheizt und im Sommer gekühlt werden. Ein guter Wärmeschutz, wassersparende Armaturen und ein eigenes Recycling-System verbessern die Öko- und Energiebilanz.

Foto: Daniel Hawelka

Aufgrund der Begrünung der Höfe, der Dächer und der drei Gemeinschaftsterrassen entsteht eine vielfältige Flora. Außerdem wird auf diese Weise verhindert, dass die Überbauung eine Hitzeinsel im Stadtraum bildet. Die Wohnanlage wurde mit dem Gebäudezertifikat klimaaktiv Gold ausgezeichnet. Damit wird anerkannt, dass sie über eine von fossilen Brennstoffen unabhängige Wärme- und Kälteversorgung verfügt. Westwärts der Überbauung entstand fast gleichzeitig der Bildungscampus Wien West. Zu ihm gehören ein Kindergarten, eine Volksschule, eine Mittelschule, sonderpädagogische Einheiten und eine Musikschule. Auch sein Energiekonzept sieht den Verzicht auf fossile Energieträger vor. Es tut sich etwas in der Hauptstadt.

Lageplan (© Berger+Parkkinen)
Grundriss Erdgeschoss (© Berger+Parkkinen)
Grundriss Regelgeschoss (© Berger+Parkkinen)
Schnitt (© Berger+Parkkinen)

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