Dauerhafte Botschaften

Manuel Pestalozzi
11. Februar 2021
Cover: Müry Salzmann Verlags GmbH

Was kommt nach dem Architekturstudium? Die Frage nach den beruflichen Chancen und Unwägbarkeiten müssen sich Jahr für Jahr die Abgänger*innen von Hochschulen stellen. Meistens herrscht der Wunsch vor, das frisch geschulte kreative Potenzial in der Praxis zu entfalten. Manche möchten sich vielleicht einen Namen machen. Dies ruft nach einem Strategieplan, der die gegebenen Umständen berücksichtigt. Welche Möglichkeiten bieten sich? Wie lässt sich die Karriere vorantreiben und zu welchem Preis? Diese Fragen stellten sich in besonderem Maße auch vor achtzig Jahren, als Karl Schwanzer seine Karriere begann.

Mit diesen Gedanken sollte man das Buch »Karl Schwanzer. Die frühen Jahre eines Architekten von Weltruf« des jungen Historikers Franz J. Gangelmayer zur Hand nehmen. Denn es berichtet nicht nur über den Lebensweg einer einzelnen Persönlichkeit, sondern erzählt nebenher so manches über die Stellung des Architektenberufs in der Welt. Der Spagat zwischen dem eigenen kreativen Willen und den alltäglichen, zeitgebundenen Bedürfnissen der potenziellen Klientel bleibt wohl immer gleich. Deshalb enthält das Buch Botschaften, die eine dauerhafte Gültigkeit haben und gerade von einem jungen Berufspublikum zu Herzen genommen werden sollten.

Das bekannteste Werk von Karl Schwanzer ist der »Vierzylinder« von BMW am Rande des Münchner Olympiaparks, erbaut zwischen 1968 und 1973. (Foto: Markus Matern via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Das berühmteste Gebäude Karl Schwanzers ist die 1973 eingeweihte Konzernzentrale von BMW in München. Der ikonische Turm mit vorgelagertem Museumsbau zählt zu den herausragenden Wegmarken der Corporate Architecture. Weitere wichtige Arbeiten aus Schwanzers Feder sind das Museum des 20. Jahrhunderts (heute Belvedere 21) in Wien, das ursprünglich als österreichischer Pavillon für die Expo 58 in Brüssel errichtet wurde, oder das Philips-Haus, ebenfalls in Wien. Das Buch schildert minuziös den Karrierehintergrund, der zu diesen Gebäuden führte.

Karl Schwanzers Dissertation befasst sich mit der »Entschandelung« der polnischen Kleinstadt Żory (Sohrau) in Oberschlesien. Die Arbeit sollte nach Ansicht von Franz J. Gangelmayer seine Karrierechancen im »Dritten Reich« verbessern. (Abdruck in: »Die deutsche Heimat. Zeitschrift für Heimatpflege und heimatgebundenes Werkschaffen«, Heft 10, Jahrgang 1942, S. 79)
Opportunist oder Überzeugungstäter?

Der gebürtige Wiener steuerte zielstrebig das Architekturstudium an; schon als Gymnasiast hatte er mit einem Onkel ein Sommerhäuschen geplant und realisiert. Ende Oktober 1940 legte er an der Technischen Hochschule Wien seine zweite Staatsprüfung ab – um wenige Tage später eine Stelle im Kreisbauamt der Stadt Rybnik anzutreten, die Nazi-Deutschland 1939 erobert hatte. Die Arbeit der »neuen Kreisbauämter« in dieser Region war aufgrund ihrer Siedlungs-, Landschafts- und Raumplanungstätigkeiten im »deutschen Osten« vom nationalsozialistischen Staats- und Verwaltungsapparat als »kriegswichtig« eingestuft worden. Schwanzer und seine Kollegen waren darum vom Militärdienst befreit, um sich dem Wiederaufbau im Sinne des Regimes widmen zu können.

Schwanzer erstellte mit einem früheren Studienkollegen Raumordnungsskizzen, unter anderem für die Städte Loslau und Sohrau, und plante eine Arbeitersiedlung. Was ihm für den umfassenden Karrierestart noch fehlte, war eine Dissertation. Das Thema wollte er mit seiner aktuellen Tätigkeit verbinden. »Er ließ sich weniger von Idealismus oder eigenen Interessen als vielmehr von praktischen und pragmatischen Gesichtspunkten leiten«, schreibt dazu Gangelmayer. Bei seiner Suche landete Schwanzer schließlich bei der »landschaftsgebundenen baulichen Umgestaltung des Ringes und Platzes der Stadt Sohrau«. Im Untertitel der Dissertation ist der Begriff »Entschandelung« aus dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch enthalten. Dieser wurde vor dem Hintergrund der »Richtlinien zur Pflege und Verbesserung des Ortsbildes im deutschen Osten« geprägt, die vom Deutschen Heimatbund auf Veranlassung des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) ausgearbeitet worden waren. Das ideologische Ziel der nationalsozialistischen Verwaltung war, »alles Hässliche, Unsaubere, Zwecklose, das in das natürliche und geschichtlich gewordene Bild, namentlich durch die polnischen Bauten, nach dem Kriege [Erster Weltkrieg, Anm.d.Red.] hineingetragen wurde, zu entfernen«.

Karl Schwanzers Dissertation, mit der er 1942 zum »Doktor der technischen Wissenschaften« promoviert wurde, bestand primär aus Projektvorschlägen. Sie war zwar einem ideologisch stark überfrachteten Thema gewidmet, in ihrem Inhalt aber grundsätzlich pragmatischer Natur. Sehr wahrscheinlich erhoffte sich der junge Architekt in ihrem Fahrwasser attraktive Aufträge. Im Buch wird auch der Textteil ausführlich beschrieben und diskutiert. In Schwanzers Arbeit seien, so wird dargelegt, übliche »NS-Emphasen für den deutschen Osten und für die Legitimierung des Angriffs auf Polen« zu finden. Gangelmayer erkennt große Ähnlichkeiten mit etwas früher verfassten Dissertationen von Schwanzers Studienkollegen und kommt zu dem Schluss: »Der die Länge eines wissenschaftlichen Aufsatzes nur unwesentlich überschreitende Textteil der Dissertation war zum größten Teil abgeschrieben und würde heute alle Merkmale eines Plagiats erfüllen.« Offenbar entsprang das Werk weniger ideologischen Überzeugungen. Vielmehr empfand es der junge Architekt wohl als unabdingbaren Türöffner für seine weitere Karriere.

Von Militäranlagen zum Christbaumschuck

Schwanzers Hoffnungen auf Aufträge in den besetzten Gebieten zuschlugen sich alsbald durch den Lauf der Geschichte. Der Krieg wendet sich gegen das »Dritte Reich«, die deutsche Wehrmacht war an allen Fronten auf dem Rückzug. Karl Schwanzer plante nun Flugabwehrstellungen. Später war er in Tschechien im Rahmen des »Silberbauprogramms« tätig, welches auf Flugplätzen bauliche Vorkehrungen für den Einsatz der ersten Düsenjäger treffen sollte. Dabei wirkte er als Angestellter der Organisation Todt (OT), einer paramilitärischen Bautruppe, die bei der Umsetzung ihrer Projekte vielfach auf Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zurückgriff. In den letzten Kriegstagen gelang ihm ein quasi nahtloser Übertritt von dieser Organisation zu einem tschechischen Holzbauunternehmen. Er beteiligte sich in der Folge an dessen Überführung nach Bayern und gründete dort mit der Frau eines früheren OT-Mitarbeiters noch 1945 das Neue Atelier angewandter Kunst. Dieses plante unter anderem die »massenhafte Produktion und den Verkauf von Märchenfiguren, Krippen und Christbaumschmuck aus Holz«. Entsprechende Skizzen des Architekten sind im Buch abgebildet.

Daneben gelang es Karl Schwanzer, neue Architekturaufträge an Land zu ziehen. Dabei nutzte er sein Netzwerk, das er seit den Studienzeiten aufbaute, achtete aber auch auf ein »standesgemäßes« Auftreten in »adretter, makelloser Kleidung« und mit eigenem Wagen. Gangelmayer meint dazu: »Wenn ein einzelnes Wort Karl Schwanzer zu dieser Zeit am besten beschreibt, dann ist es ›umtriebig‹. Der knapp 30-jährige Architekt war so vielseitig interessiert und offenbar auch für so Vieles begabt, dass er selbst nicht recht wusste, wohin seine künftige berufliche Reise gehen sollte.«

Die Wolken teilen sich

Eine weitere wichtige Zäsur in der noch jungen Karriere von Karl Schwanzer war die verfügte Repatriierung österreichischer Staatsbürger*innen aus Bayern im Jahr 1946, was auch eine Trennung von sorgfältig eingefädelten Projekten bedeutete. Mit dem Orts- und Landeswechsel erfolgte dann die Gründung eines selbständigen Büros in Wien. Er erhielt Aufträge und zudem eine Assistenz in einer Fachklasse für Raumkunst an der Akademie für angewandte Kunst, nachdem er bei der NS-Meldestelle in Wien eine »Bestätigung über Nichtregistrierung« erhielt. Der Beweis, kein aktiver Nationalsozialist gewesen zu sein, sollte ihn allerdings noch weiter beanspruchen.

In den 1950er-Jahren teilten sich für den Architekten die Wolken. Er hatte sich »einen Namen für Neugestaltungen von Geschäftslokalen in Wien gemacht und avancierte zu einem gefragten Architekten«, wie Gangelmayer schreibt. Und er wollte sein Unternehmen wachsen sehen. So fährt der Historiker fort: »Projekt um Projekt richtete er dieses immer internationaler aus, was Schwanzer wohl zu einem der erfolgreichsten, kraftvollsten, vielseitigsten und eigenwilligsten österreichischen Architekten seiner Zeit machte.«

Lesenswerter Denkanstoß

Hintergrund des Buchs »Karl Schwanzer. Die frühen Jahre eines Architekten von Weltruf« war die Bitte von Karl Schwanzers Sohn, Martin Schwanzer, an den renommierten Zeithistoriker Siegfried Mattl, die Aktivitäten seines Vaters während der Herrschaft der Nationalsozialisten zu durchleuchten. Dies geschah 2012, nachdem Schwanzers Dissertation in einem Zeitungsartikel publik gemacht worden war. Der Historiker kam zu dem Ergebnis, dass Karl Schwanzer sich zeit seines Lebens weder in völkisch-antisemitischen Kreisen offiziell politisch betätigt habe noch ihm eine NSDAP-Parteimitgliedschaft nachgewiesen werden könne. Eine offene Ablehnung oder gar Widerstand dem Nationalsozialismus gegenüber lassen sich Karl Schwanzer aber auch nicht zuschreiben. 

Franz J. Gangelmayer konnte bei der Recherche zu seinem Buch von der Übernahme des umfangreichen Nachlasses Karl Schwanzers durch das Wien Museum profitieren. Er nutzte seine Erkenntnisse für eine spannende, neutrale, aber auch schonungslose Architektengeschichte. Sie lädt ein zum Nachdenken über Ehrgeiz, Opportunismus, Fleiß, Zähigkeit und Hingabe; aber auch über Bedingungen in geographischen und zeitlichen Raumeinheiten, denen man schwer entrinnen kann und die das persönliche Vermächtnis mitunter entscheidend prägen.

Karl Schwanzer. Die frühen Jahre eines Architekten von Weltruf

Karl Schwanzer. Die frühen Jahre eines Architekten von Weltruf
Franz J. Gangelmayer

126 x 197 Millimeter
112 Seiten
25 Illustrationen
Französische Broschur
ISBN 9783990142110
Müry Salzmann Verlags GmbH
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Der deutsche Architekt Rudolf Hamburger verließ seine Heimat in den 1930er-Jahren und arbeitete anschließend erfolgreich in China. Ab 1935 war er – wie auch seine Frau, die berühmte Agentin Ruth Werner – für den russischen Militärgeheimdienst tätig, um gegen die Nationalsozialisten aktiv zu werden. Seine Lebensgeschichte erzählt Eduard Kögel in einem kürzlich erschienen Buch.

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