Herberge mit Flair

Elias Baumgarten
19. November 2020
Foto © Glaser/Kunz

Die Französische Revolution gilt als eines der folgenreichsten Ereignisse der europäischen Geschichte. Sie brachte mit der Forderung nach Achtung zentraler Werte der Aufklärung macht- und gesellschaftspolitische Veränderungsprozesse in Gang, die bis heute fortwirken. Just in dieser bewegten Zeit, genauer 1793, wurde in Poschiavo der Palazzo Mini-Cortesi gebaut, heute bekannt als Palazzo Glaser/Kunz. Bauherr war Giacomo Mini, ein aus Venetien stammender Zuckerbäcker, der mit Kaffeehäusern in Warschau und Kopenhagen reich geworden war. Kaffeehäuser waren damals weit mehr als Orte, an denen man guten Kaffee und feinen Kuchen bekam, sie waren Foren für Austausch und Diskussion, Anlaufstellen für Literaten und Intellektuelle. Man traf sich dort, um die Zeitung zu lesen und zu debattieren. Die Betreiber verstanden sich als gesellschaftliche Avantgarde – und nicht selten suchten sie dieses Selbstverständnis architektonisch nach außen zu kehren. So auch Giacomo Mini und seine Frau Domenica Cortesi, deren Erben es schließlich auf 60 überaus erfolgreiche Kaffeehäuser allein in Spanien bringen sollten. Ihr städtisch konzipierter Palazzo war einer der ersten seiner Art im Alpenraum und sollte mit seiner spätbarocken Architektur den Anspruch untermauern, modern und zukunftsorientiert zu sein. Mit üppigen Stuckaturen etwa wollte das Paar seinen hohen Bildungsstand und sein ausgeprägtes Kunstverständnis unter Beweis stellen. Und damit waren sie tatsächlich Vorreiter: Bald bauten sich weitere Zuckerbäcker herrschaftliche Häuser in Graubünden, nachdem sie im Ausland viel Geld verdient hatten – bis schließlich der Erste Weltkrieg der blühenden Kaffeehauskultur in weiten Teilen Europas ein jähes Ende bereitete.

Wohn- und Esszimmer (Foto © Glaser/Kunz)
Zwischengeschoss mit Blick in den Garten (Foto © Glaser/Kunz)
Wohnküche (Foto © Glaser/Kunz)

2017 erwarb das Künstlerpaar Glaser/Kunz das Baudenkmal und ließ es über einen Zeitraum von drei Jahren sorgfältig restaurieren. Viele historische Details wurden liebevoll herausgearbeitet und strahlen nun in neuem Glanz – das 200-jährige Parkett zum Beispiel, die schönen Stuckaturen im Eingangsbereich oder auch die alten Kachelöfen. Das Erdgeschoss dient heute als Ausstellungsraum für Arbeiten des Besitzerpaars. Im ersten Obergeschoss befinden sich das historische Esszimmer mit einem 100-jährigen Ofen und eine Bibliothek. Zudem bietet das Haus, das neu zum Angebot der Stiftung Ferien im Baudenkmal des Schweizer Heimatschutzes gehört, Platz für Besucher*innen: Sechs Erwachsene und zwei Kinder können dort seit vergangener Woche übernachten. Der Palazzo ist ein lohnendes Ziel für alle, die an der Schweizer (Bau-)Geschichte interessiert sind und ein Flair für altehrwürdige Bauten haben. Er ist ein schöner Rückzugsort – gerade in turbulenten Zeiten wie diesen.

Informationen zu Aufenthalt und Buchung

Eines der Schlafzimmer für die Gäste der Stiftung Ferien im Baudenkmal mit historischen Möbeln (Foto © Glaser/Kunz)

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