Sprachlosigkeit, Benommenheit, Ohnmacht: Manuel Herz über die Angriffe auf Babyn Yar
Manuel Herz
3. März 2022
Foto © Iwan Baan
Manuel Herz durfte in Babyn Yar bei Kiew, Schauplatz eines der grausamsten Massaker des 20. Jahrhunderts, eine Synagoge bauen. Jetzt ist der Erinnerungsort erneut zum Kriegsschauplatz geworden.
Während ich diese Zeilen schreibe, wird Babyn Yar angegriffen. Der Ort eines der schlimmsten Massaker des 20. Jahrhunderts, an dem 1941 innerhalb weniger Tage Zehntausende von Menschen von den Nazis umgebracht wurden, ist erneut zu einem Ort des Krieges und des Mordens geworden. Fünf Menschen starben, als ein Fernsehturm und ein Sportzentrum auf dem Gelände von Babyn Yar am Stadtrand von Kiew getroffen wurden. Abgesehen von dem unglaublich tragischen Verlust an Menschenleben stellt dies eine Zerstörung der Geschichte und ein Vergehen an den über 33000 Opfern dar, die dort vor 80 Jahren erschossen wurden. Inmitten eines grausamen Krieges ist die drohende Zerstörung einer Gedenkstätte dieses Ausmaßes und dieser Bedeutung ein weiteres schreckliches Kapitel, das uns unsere Menschlichkeit entzieht.
Foto © Iwan Baan
Als ich im Oktober 2020 den Auftrag erhielt, eine Synagoge für die Stätte von Babyn Yar zu entwerfen, war ich ergriffen von der Ehre, auf diesem Gelände zu bauen, das einen »Ground Zero« der europäischen Geschichte (oder sogar der Weltgeschichte) darstellt, und von der Verantwortung, die mir als Architekt damit übertragen wurde. Natürlich hatte ich das Ziel, ein Gebäude zu gestalten, das an die Vergangenheit erinnert. Aber mehr noch sollte die Synagoge ein Bau werden, der sich mit seiner zerbrechlichen Holzkonstruktion, seiner transformativen Qualität und seiner farbenfrohen Bemalung von jeder anderen mir bekannten Art »monumentaler« und gedenkender Architektur unterscheidet. Ich wollte ein Gebäude entwerfen, in dem Juden beten können, das aber auch für Besucher und die Bürger von Kiew offen ist. Es sollte ein Ort sein, an dem sie gemeinsam die Schönheit des Lebens zelebrieren können. Da das Gebäude mit den Gedenktagen zum 80. Jahrestag des Massakers am 29. und 30. September 2021 eröffnet werden sollte, war die nur sechs Monate lange Planungs- und Bauphase von unglaublicher Intensität. In dieser Zeit lernte ich eine erstaunliche und sehr engagierte Gruppe von Menschen in Kiew kennen, die inzwischen zu engen Freunden geworden sind. Innerhalb von nur sieben Tagen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurden sie in einen erbitterten Krieg hineingezogen, viele von ihnen wurden zu Flüchtlingen.
Am 1. März schlugen Raketen nur 150 Meter von der Synagoge entfernt ein. Nur wenige Monate nach ihrer Einweihung ist die Synagoge in einen Krieg verwickelt, in dem nur noch der Tod gefeiert wird. Welchen Sinn hat es, der Geschichte zu gedenken, wenn die daraus zu ziehenden Lehren so leicht vergessen und ignoriert werden? Das macht mich sprachlos, benommen und ohnmächtig.
Foto © Iwan Baan
Im Vergleich zu anderen Gedenkstätten, die meist aus Stein und Beton gebaut sind, bedeutet die Zerbrechlichkeit der Holz-Synagoge, dass sie jeden Tag gepflegt werden muss. Diese tägliche Pflege, das Auseinandersetzen mit dem Gebäude und seine Zerbrechlichkeit sind genau das, was eigentliches Gedenken ausmacht. Die Synagoge braucht ihre Gemeinde, ihr Publikum und ihre Besucher. Da der Ort zum Kriegsgebiet geworden ist, wurde die Synagoge dieser Gemeinschaft beraubt. Jetzt steht sie verlassen im Babyn-Yar-Areal und droht zu einem der weiteren Kriegsopfer zu werden. Angesichts des Verlusts an Menschenleben ist dies natürlich weniger tragisch. Aber das Zeichen, das gesetzt wird, wenn Babyn Yar wieder zu einem Kriegsschauplatz wird, spricht Bände über den Verlust unserer Menschlichkeit. Ich bete für die Bevölkerung von Kiew und der Ukraine, dass die Grausamkeit des Krieges so schnell wie möglich beendet wird, und ich hoffe, dass die Synagoge ihre Gemeinschaft zurückgewinnen kann, damit die Lektionen ihrer Zerbrechlichkeit nicht vom grausamen und erbarmungslosen Lärm des Krieges übertönt werden.
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