Naturbaustoff mit Zukunft – Strohballen als Konstruktionsmaterial
Leonhard Fromm
23. September 2022
Den Bau von über 60 Häusern unter Verwendung von Stroh hat der aus Norddeutschland stammende Berater Virko Kade in Österreich mittlerweile begleitet. (Foto © one straw revolution)
An der Universität Bayreuth fand kürzlich eine Tagung zum Bauen mit Strohballen statt – wichtige Anschubhilfe für das Konstruieren mit dem Naturbaustoff. In Deutschland soll ab 2024 eine DIN-Normierung den Einsatz des Materials regeln.
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Gut 100 Gebäude aus Stroh haben allein die Referentinnen und Referenten, die an den »StrohBallenBauTagen« sprachen, seit 1995 errichtet. Über 100 Fachleute aus Architektur und Energieberatung, aber auch zahlreiche Prüfingenieure und Baustofflieferanten besuchten die Fachtagung, die am 13. und 14. September an der Universität Bayreuth stattfand. Sogar aus den Niederlanden und aus Italien waren Teilnehmende angereist, um mehr über die Verwendung des Naturbaustoffs zu erfahren.
Christopher Taube, Bauingenieur an der Bauhaus-Universität in Weimar, forscht seit Jahren zur Belastbarkeit und Tragfähigkeit von Strohballen im Hochbau. Sein Ziel ist es, Standards für die Normierung zu definieren, welche dann die Einzelfallprüfung bei den Baubehörden ersetzen und für alle Beteiligten Rechts- und Kostensicherheit ermöglichen sollen. In Bayreuth gab der Forscher, der ursprünglich aus dem Betonbau kommt und dessen Prüfkriterien nun auf den Strohballenbau überträgt, Einblick in seine Arbeit.
Taube hat sich eigens einen Prüfstand bauen lassen, auf dem sowohl von oben als auch von der Seite massive Kräfte hydraulisch einwirken. »Wir untersuchen, wie und wo sich die Ballen deformieren, wenn kurz- oder langfristig Druck auf sie ausgeübt wird«, so der Forscher. Dies geschehe mit und ohne begrenzende Holzkonstruktionen. Ziel seien mathematische Formeln, um mit den unterschiedlichsten Parametern Entwürfe simulieren zu können.
Bei der Wohnüberbauung von Atelier Schmidt in Nänikon wurde Stroh als Baumaterial eingesetzt. Der Bündner Architekt Werner Schmidt sieht im liberaleren Schweizer Baurecht und in der höheren Gewichtung von Eigenverantwortung in seinem Land einen Vorteil gegenüber der hochregulierten Bundesrepublik. (Foto: Beat Brechbuehl)
Die Holzmodule wurden im Werk mit Stroh verfüllt. (Foto: Damian Poffet)
Erfahrungswerte liegen beispielsweise seitens des Schweizer Architekten Werner Schmidt vor, der seit 1995 mehr als 40 Objekte mit Stroh gebaut hat, darunter ein Einzelhandelsgebäude bei Ulm in Süddeutschland und zuletzt 28 Wohneinheiten nahe Zürich für eine Investorin. »Bei einem vierstöckigen Gebäude hat sich das Erdgeschoss unter der Gesamtlast um 30 Zentimeter gesenkt, das 1. Obergeschoss um 25 und das 2. Obergeschoss um 20«, berichtete Schmidt an der Tagung in Bayern. Er sprach auch über eines seiner Strohhäuser, das in den Alpen in 1200 Meter Seehöhe einen Lawinenabgang nahezu unbeschadet überstanden hat.
Christopher Taube attestiert den Ballen, die üblicherweise mit Spanngurten im Abstand von einem Meter je Etage niedergezurrt werden, eine Tragfähigkeit von bis zu vier Tonnen pro Quadratmeter. »Die Tragfähigkeit ist überhaupt nicht begrenzt, nur muss man die Verdichtung in der Planung berücksichtigen«, ist er überzeugt. Einig waren sich die referierenden Experten, darunter auch Virko Kade aus Österreich, der seit 1998 mehr als 60 Gebäude aus Stroh errichtet hat (davon mindestens ein Viertel lasttragend), dass der Senkungsprozess nach rund zehn Tagen abgeschlossen ist.
Alle Praktiker bestätigen, was Taube wissenschaftlich erforscht: Je höher die Lasten, desto wichtiger werden Details wie etwa die Dichte des Ballens, die Stärke der einzelnen Halme und deren Ausrichtung. Der als Berater tätige Experte Virko Kade sagte dazu: »Lange Halme sind gut für die Verbindung innerhalb des Ballens, aber die kürzeren holzigeren sind besser belastbar.« Üblicherweise wiegen die Ballen 140 bis 200 Kilogramm pro Kubikmeter.
Wichtig ist indes auch, mit welchem Mähdrescher, welchen Einstellungen und welcher Geschwindigkeit der Landwirt bei welcher Witterung übers Feld fährt. Denn auch das geben Fachleute wie Florian Hoppe, der in Weimar mit zwei Partnerinnen ein Architekturbüro betreibt, eng mit der dortigen Bauhaus-Universität kooperiert und jüngst den Deutschen Fachverband Strohballenbau (FASBA) gegründet hat, zu bedenken: »Je mehr Unkraut zwischen dem Getreide wächst, desto mehr Feuchte beinhalten die Ballen.« Der FASBA strebt bis 2024 die Normierung seiner Bauweise an, sodass aufwendige Einzelfallgenehmigungen entfallen würden.
Florian Hoppe vom Deutschen Fachverband Strohballenbau (FASBA) diskutierte mit den Teilnehmenden baurechtliche Aspekte des Bauens mit Stroh. Bis 2024 soll in Deutschland ein Normenwerk das Bauen mit dem Naturmaterial regeln. Einzelfallgenehmigungen wären dann nicht mehr nötig. (Foto: zvg)
Deshalb muss auch gesagt werden: Sämtliche Belastungstests an der Hochschule Weimar befassen sich mit Ballen aus Weizenstroh. Bei Gerste, Roggen oder Dinkel kommt es schon wieder zu Abweichungen. Deshalb warnte mancher Experte in der Zuhörerschaft denn auch vor zu viel Regulierung, die die Genehmigungen behindern könne, »weil die Baubehörde oder der Gutachter dann jede Planung auf die Goldwaage legt«. Stroh-Architekt Schmidt stimmte dem zu. Er habe sich nur entfalten können, weil die Schweiz ein liberales Baurecht hat: »Bei uns gehen die Behörden vom mündigen Bauherren aus, der weiß, was er tut.«
Und während der Strohballenbau in Deutschland erst am Anfang steht (wobei etliche potenzielle Bauherren aus der gesamten Bundesrepublik in Bayreuth im Publikum saßen und die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits 2008 über ein Strohhaus in Trier berichtet hatte), ist Virko Kade, der aus Norddeutschland stammt, aber seit zwanzig Jahren in Österreich lebt, schon einige Schritte weiter: Mit 75 Metern Länge, 1,2 Metern Breite und fünf Metern Höhe hat er 2021 bei Salzburg die bislang größte lasttragende Strohwand errichtet, die nur von vertikalen Spanngurten in je einem Meter Abstand gehalten wird, um die hohen Windlasten abzutragen. »Der Bauherr, ein Landwirt, hat nicht verkaufsfähige, weil angegraute Strohballen verwendet und verzichtete sogar auf Lehm- oder Kalkputz zum Schutz gegen Schlagregen«, berichtete Kade in Bayreuth. Zwar handelt es sich bei dem Bauwerk »nur« um eine Maschinenhalle, in der der 51-jährige Experte auch fünftägige Workshops zum Bauen mit Strohballen abhält, doch sammelt die gesamte Branche dadurch Erfahrung und gewinnt stichhaltige Argumente für Genehmigungsverfahren bei den Baubehörden. Auch 2023 finden die »StrohBallenBauTage« wieder statt. Dann am 12. und 13. September an der Bauhaus-Universität Weimar.