Das denkbar Mögliche umsetzen

Ulf Meyer
26. November 2021
Wohn- und Geschäftshaus von PPAG in Deutsch-Wagram (Foto © Paul Bauer)

Von Robert Musil (1880–1942) stammt die Forderung, dass »wo es Wirklichkeitssinn gibt, es auch Möglichkeitssinn geben muss« – dieses Bonmot griff die Wiener Architektin Anna Popelka auf und machte es zum Leitmotto ihrer Entwürfe. Zusammen mit ihrem Partner Georg Poduschka betreibt sie das Büro PPAG, dessen Ruf schon länger weit über Wien hinausstrahlt. Bei der Berliner Architekturgalerie Aedes ist derzeit ihre Ausstellung mit dem Titel »Die Möglichkeit steht im Raum« zu sehen. Zur Eröffnung der Schau benannte sie lediglich »das Budget, die Schwerkraft und die Bauphysik« als jene Faktoren, die die Möglichkeiten ihrer Raumkunst einschränken. Natürlich gibt es noch weitere, aber diese teils zu ignorieren ist wohl gerade eine der Stärken des Büros PPAG. Denn die beiden Architekten sind Grundriss-Tüftler, das ist der Berliner Ausstellung auch fast überdeutlich anzusehen, und zugleich – und das zum Glück – haben sie ein Händchen für Materialien und handwerkliche Umsetzungen; und noch dazu einen feinen Sinn für Ornamentik. 

Parkhausfassade in Skopje (Foto © Darko Hristov)
Herausragende Schulbauten, die neue pädagogische Konzepte animieren

Bei einer Parkhausfassade in Skopje, einem Fußboden aus Ziegeln oder einem Waschtisch für ein Ausflugsrestaurant kommen eben diese Qualitäten zum Tragen. Wo manchen Kollegen wohl nur Schnödes gelungen wäre, beweisen Anna Popelka und Georg Poduschka ihr besonderes Talent. Das notwendige Neue in die Welt zu bringen, sei ihr Ziel, sagen die beiden. Da sie »das Neue« (um den von sogenannten Marketingexpertinnen und Verkäufern überstrapazierten Begriff »Innovation« zu vermeiden) also nicht als Selbstzweck betrachten, fühlen sie sich frei, auch munter in der Geschichte der Moderne Anleihen vorzunehmen, zum Beispiel im Strukturalismus niederländischer Prägung. Speziell im Schulbau ist dies unübersehbar. Bildungsbauten sind neben Wohnhäusern die wichtigste Aufgabe für PPAG – und beide Gebäudetypen sind für Berlin, Wien und andere mitteleuropäische Städte von höchstem Interesse. Wie einst bei Herman Hertzberger geht es auch bei den Schulbauten von Popelka und Poduschka darum, neue pädagogische Konzepte nicht nur zu unterstützen, sondern regelrecht zu animieren. 

Wenn man eine umfassende natürliche Belichtung und Belüftung der Klassenzimmer anstrebt, endet man unweigerlich bei Gebäuden mit viel Hüllfläche. Dass man, um beim winterlichen Wärmeschutz möglichst wenig Energie zu verlieren, jedoch gerne kompakt baut und dies bei städtischen Schulen obendrein auch aus städtebaulichen Gründen oft opportun ist, diesen Einwand schütteln die Architekten schnell ab: Schüler seien kleine 80-Watt-Heizungen, und der Heizbedarf von Schulen sei entsprechend gering. Ihre Schule an der Allee der Kosmonauten in Berlin haben sie als Holz-Hybridbau geplant, ausgeführt wird sie aber – zu ihrem Bedauern – doch als konventioneller Massivbau. In Berlin laufen derzeit noch weitere PPAG-Projekte vom Stapel: in Neukölln ein Wohngebäude mit Sporthalle und Tanzsaal, an der Lützowstraße ein Wohn- und Bürohaus, am Nordbahnhof ein Wohnensemble. Die Volks- und Berufsschule in der Längenfeldgasse in Wien bietet einen Freiraum, der sich in Kaskaden über mehrere Terrassen erstreckt. Die Raumstruktur der Schule orientiert sich an den Bedürfnissen der Pädagogik. 

Das Quartiershaus »Open Up!« im Wiener Sonnwendviertel (Foto © Paul Sebasta)
Gedränge in der Galerie, Vertiefung im Katalog

Angesichts der über-mitteilsamen Ausstellung, die Kostproben von 40 Projekten an die Wände der Berliner Brauerei drängt, ist es schön, dass die diesem Overkill geschuldete Oberflächlichkeit durch einen dicken Katalog mit 240 Seiten kompensiert wird. Darin kann der Leser tiefer eintauchen in starke Projekte wie das Quartiershaus »Open up!« im Wiener Sonnwendviertel. Und das Wirtshaus Steirereck am Pogusch vereint Bodenständigkeit, Haute Cuisine und Luxushotellerie. Bei der Erweiterung des Lokals hat das Team von PPAG Vorhänge aus Holzlamellen entworfen, die Besucher »in eine ungewohnte Bergwelt entführen«. Innen fällt der Blick in illuminierte Kielsteg-Decken, die nun in Berlin als Sitzmöbel zu erleben sind. 

Der Maßstab der Artefakte reicht vom Möbelbau bis zum Städtebau, von 1:1000 bis 1:1. Denn auch im Möbelbau finden Popelka und Poduschka neue Lösungen, zum Beispiel haben sie einen handlichen Tisch für Schulkinder entworfen. So ist es eigentlich kein Wunder, dass auch außerhalb des deutschen Sprachraums ihre Pädagogik-Architektur gefragt ist: Während in den Anden von Ecuador eine deutsche Schule nach einem Entwurf von PPAG im Bau ist, lassen sich in der Telemark in Norwegen die neuen Qualitäten im Schulbau bereits überprüfen: In der Sekundarschule von Sauland umstehen die Klassenzimmer das Foyer wie hölzerne Dorfhäuser einen Anger.

Die Schule von Sauland in Norwegen (Foto © Wolfgang Thaler)
Hohe Ansprüche – zu Recht

Gemeinsam ist all diesen Projekten die Suche »nach Relevanz und gesellschaftlichem Nutzen«. »Raum beeinflusst uns und wir beeinflussen Raum« – aus Winston Churchills berühmtem Zitat ziehen die beiden Planer ihre Kraft – für eine »Zukunft, die ein besseres Leben für alle bringt«. Nichts weniger! Denn »eine Gesellschaft kann und muss sich gute Architektur immer leisten. Ohne Kompromisse. Hochwertige Architektur ist nichts anderes als gebaute Wertschätzung«, postulieren Anna Popelka und Georg Poduschka. Wer wollte da widersprechen? Das Timing der Ausstellung ist ihrer Meinung nach perfekt. Denn »nach fast zwei Jahren Pandemie sind wir als Gesellschaft so geübt im ›Anders‹ wie nie zuvor«, sagen sie bittersüß. 

Architektur durchdringt alle Lebensbereiche und beeinflusst unser tägliches Tun. PPAG möchten zeigen, was die gebaute Umwelt sein kann, wenn man das denkbar Mögliche umsetzt. 

Die Ausstellung ist noch bis zum 13. Januar 2022 im Aedes Architekturforum (Christinenstraße 18–19) in Berlin zu sehen. Die Öffnungszeiten sind dienstags bis freitags von 11 bis 18.30 Uhr und sonntags bis montags von 13 bis 17 Uhr. 

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