Das Potenzial der Nachkriegsmoderne

Paulina Minet
2. March 2023
Die doppelgeschossige Eingangshalle ist nunmehr das Herzstück des Baus. Sie ist nicht nur als ein Erschließungsraum gestaltet, sondern soll zum wichtigen Treffpunkt für das Quartier werden. (Foto: © Ariel Huber Photography, Lausanne) 

Bauten der Nachkriegsmoderne, die wie das Felix-Platter-Spital weder ihre funktionellen Anforderungen erfüllen können noch aktuellen Standards entsprechen, sind eine architektonische Herausforderung, mit der immer mehr Planer der heutigen Zeit konfrontiert sind. Bis anhin erschien der Abriss meist die naheliegendste Option zu sein, denn eine Transformation ist oft kostspielig und komplex. Doch kann dies in Zeiten der Klimakrise und Ressourcenknappheit noch der richtige Ansatz sein?

Gebäude sind baukulturelle Zeitzeugen, die ökonomische, soziale und kulturelle Wertvorstellungen ihrer Zeit abbilden. Ihr Abriss wäre eine enorme Verschwendung von Material und grauer Energie, aber auch gleichbedeutend mit einem Auslöschen (bau)geschichtlicher Zeugnisse. Pionier auf dem Gebiet der Umgestaltung von Bestandsbauten ist das französische Architektenduo Lacaton & Vassal, das für seine Arbeit inzwischen sogar mit dem Pritzker-Preis geehrt wurde. Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal zeigten beim Umbau der Wohnanlage Cité du Grand Parc in Bordeaux, wie ein respektvoller Umgang mit einem Scheibenhochhaus aus den frühen 1960er-Jahren aussehen kann. Durch das Hinzufügen einer äußeren Raumschicht in Form von Wintergärten gelang es ihnen, die drei Wohngebäude auf ökonomische, ressourcenschonende und sozialverträgliche Weise zu sanieren und ein zeitgemäßes Erscheinungsbild zu schaffen. Als thermische Pufferzone bieten sie zusätzliche Freiräume und werten die Wohnräume durch einen größeren Tageslichteinfall qualitativ auf.

Mit der Umnutzung des Felix-Platter-Spitals auf dem Westfeld in Basel gelang dem Büro Müller Sigrist gemeinsam mit Rapp Architekten die Verwandlung eines baukulturellen Zeitzeugen in ein lebendiges »Miteinanderhaus«. Auch bei früheren Projekten wie dem Kunstfreilager Dreispitz in Basel würdigten sie bereits den Bestand. Der Umbau ist Teil des größten genossenschaftlichen Modellprojekts der Schweiz, des Westfelds der Baugenossenschaft wohnen & mehr. Die Idee, ein durchmischtes »Quartier im Quartier« zu schaffen, folgt dem städtebaulichen Konzept der Büros Enzmann Fischer Partner und Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und Städtebau. 

Blick auf die Südfassade des umgebauten Spitals (Foto: © Ariel Huber Photography, Lausanne)  
Die Nordfassade (Foto: © Ariel Huber Photography, Lausanne)  

Ursprünglich waren die drei Bestandsgebäude auf dem Areal nicht geschützt. Erst durch das Engagement der Bauherrenschaft, des Heimatschutzes Basel-Stadt und der Freiwilligen Denkmalpflege wurde das Spitalgebäude im Jahr 2016 unter Schutz gestellt. Ein reduzierter kantonaler Schutzumfang, der eine Einteilung in drei Schutzwürdigkeiten vorsieht, eröffnete jedoch ausreichend Spielraum für eine wirtschaftliche Umnutzung. 

Diese Axonometrie zeigt den Schutzumfang, der in drei Kategorien unterteilt ist. Auf diese Weise blieb genug Spielraum für die Umgestaltung des Baudenkmals. (© Denkmalpflege Basel-Stadt, Courvoisier)

Das Felix-Platter-Spital wurde 1967 nach den Plänen von Fritz Rickenbacher und Walter Baumann als Scheibenhochhaus in Stahlbeton-Schottenbauweise erbaut. Es stellt einen Orientierungspunkt im Stadtbild dar, der durch seinen Wiedererkennungswert identitätsstiftend für das Quartier ist. Das Gebäude ragt zehn Geschosse hoch auf und ist mit 100 Metern Länge und 35 Metern Höhe das längste und höchste Gebäude des Areals. Seine feingliedrige Rasterfassade mit horizontaler Bänderung verleiht ihm Leichtigkeit und Eleganz.

Historische Aufnahme des Gebäudes von Süden (Foto: © E. Balzer, Basel | Archiv Städtebau & Architektur (ehemals Hochbauamt) Basel-Stadt)
Blick von Norden auf das Spital (Foto: © E. Balzer, Basel | Archiv Städtebau & Architektur (ehemals Hochbauamt) Basel-Stadt)
 (Foto: © Ariel Huber Photography, Lausanne)
Im Parterre ist eine Kindertagesstätte entstanden. (Foto: © Ariel Huber Photography, Lausanne)  

Die Architekten wählten für jeden der drei Fassadentypen eine individuelle Strategie, um das prägnante Erscheinungsbild des Baudenkmals zu erhalten. Im Süden wurde die filigrane Fensterfront mit ihren gefalteten Schwingflügeln wie beim eingangs angesprochenen Projekt von Lacaton & Vassal um eine neue Schicht privater Loggien ergänzt. Konträr dazu entstand sie durch eine zweite, vollverglaste Isolierfassade im Inneren, die hinter der historischen Fassade liegt. Die alte Festverglasung wurde durch Schiebeelemente ersetzt. 

Auf der Südseite ist eine neue Schicht privater Loggien entstanden. Dies weckt Erinnerungen an den Umbau der Wohnanlage Cité du Grand Parc von Lacaton & Vassal. Allerdings befindet sich die neue Fassade anders als beim Projekt der Pritzker-Preisträger auf der Innenseite. (Foto: © Ariel Huber Photography, Lausanne)
Detail der Südfassade (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)

In das Gitterwerk der Nordfassade aus Betonfertigteilen wurden Holz-Metall-Fenster eingesetzt, die die Aussicht auf die Stadt rahmen. Das Augenmerk der Architekten lag auf der thermischen Sanierung der frei auskragenden Betondecken mit ihren markanten Balkonen an der Ost- und Westseite. Bei der Fassadensanierung sollte möglichst viel Substanz erhalten werden.

In die Nordfassade aus Betonfertigteilen wurden neue Holz-Metall-Fenster eingesetzt. (Foto: © Ariel Huber Photography, Lausanne)  
Detail der Nordfassade (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)

Das neue Herzstück des Gebäudes ist die doppelgeschossige Eingangshalle. Sie ist durch den Umbau zum Begegnungsort des Quartiers geworden. Nach außen zeigt sie Präsenz, indem sie die städtebaulichen Achsen aufgreift und den Grünzug des Hegenheimer Quartiers mit dem neuen Quartiersplatz des Westfelds verbindet. Die Halle ist der größte Eingriff in die Bausubstanz. Die drei nördlichen Treppenhauskerne sorgen für eine direkte Verbindung zu den Wohnungen, gewährleisten den Brandschutz und genügen heutigen Anforderungen an Fluchtwege. 

Vom Foyer aus erschließt eine »Rue intérieure« die öffentlichen Nutzungen wie den Quartierstreffpunkt, ein Café, eine Kita, Coworking-Spaces und verschiedene Läden im Parterre. Sie setzt sich in Form einer kaskadenartigen Treppe von der Halle bis zur Dachterrasse mit angrenzendem Gemeinschaftsraum fort. Sie verbindet die Wohngeschosse, fördert Begegnungen im Gebäude und erschließt die 134 Wohnungen. Die effiziente Struktur der Wohngrundrisse entstand durch eine sorgfältige Weiterentwicklung des Grundrissrasters des ehemaligen Spitals. Der Mensch stand damals wie heute im Zentrum des Entwurfs. Das Gebäude bietet alles von Ein- bis Zwölfzimmerwohnungen, darunter sind Maisonette- und Budgetwohnungen, Studios, Cluster, Joker- und Gästezimmer. Diese können je nach Bedarf für einen gewissen Zeitraum auch für Gäste angemietet werden. 

Foto: Paulina Minet

Das Potenzial des ehemaligen Spitals wurde bei dem respektvollen Umbau zu einem innovativen genossenschaftlichen Wohnungsbau genutzt, dennoch blieben der Charme und die Identität des baukulturellen Zeitzeugen erhalten. Der Entwurf kann Vorbild sein für den Umgang mit Spitälern der 1960er- und 1970er-Jahre, die ihrer Funktion nicht mehr gerecht werden und die für neue Nutzungen frei sind.

Situation (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)
Grundriss Erdgeschoss (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)
Grundriss 1. Obergeschoss (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)
Grundrisse 2. und 3. Obergeschoss (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)
Grundrisse 4. und 5. Obergeschoss (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)
Grundrisse 6. und 7. Obergeschoss (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)
Grundrisse 8. Obergeschoss und Dachgeschoss (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)
Querschnitt (© Müller Sigrist Architekten, Zürich | Rapp Architekten, Münchenstein)

Paulina Minet ist Architektin BA der Hochschule Karlsruhe. Derzeit absolviert sie ein Masterstudium der Architektur an der HTWG Konstanz und ist zudem seit Kurzem als Architekturjournalistin tätig. Der Mensch spielt für sie in der Architektur eine zentrale Rolle, sowohl beim Entwerfen als auch beim Schreiben. Ihr besonderes Interesse gilt genossenschaftlichen Bauprojekten.

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