Eine Träumerin, die nicht nur träumte

Susanna Koeberle
28. janvier 2022
Meret Oppenheim in ihrem Atelier, 1982 (Foto © Margrit Baumann, Kunstmuseum Bern, Bernische Stiftung für Foto, Film und Video)

 

Die 1913 in Berlin als Tochter des deutsch-jüdischen Arztes Erich Alfons Oppenheim und der Schweizerin Eva Wenger geborene Künstlerin wuchs in der Schweiz auf und kam schon als Kind mit Kunst in Berührung. Meret Oppenheim wusste früh, dass sie Malerin werden wollte, und brach die Schule ab. So fuhr sie 1932 mit ihrer besten Freundin nach Paris, um die Welt der Kunst zu erkunden. Die französische Hauptstadt war in dieser Zeit der »place to be« für Kunstschaffende; dort lernte die junge Frau auch prompt mehrere Künstler kennen, darunter Alberto Giacometti, Jean Arp oder die Surrealisten Max Ernst und Man Ray. Sie knüpfte in Paris auch Freundschaften zu weiblichen Protagonistinnen der Szene wie Leonor Fini oder Dora Maar. Sie stand unter anderem für Man Ray Modell, daraus entstand der bekannte Zyklus «Erotique Voilée». Und hoppla: Schon wurde sie zur «Muse der Surrealisten» ernannt. Vielleicht erfuhr sie auch dadurch schon früh, was es bedeutet, sich neben männlichen Künstlerkollegen zu behaupten; beziehungsweise, wie viel es brauchte, um als Künstlerin wahrgenommen zu werden – und eben nicht lediglich als Muse. Viele Jahre später formuliert sie diese Erkenntnis in ihrer Rede zur Verleihung des Kunstpreis der Stadt Basel 1974 folgendermaßen: »Ich möchte sogar sagen, dass man als Frau die Verpflichtung hat, durch seine Lebensführung zu beweisen, dass man die Tabus, mit welchen die Frauen seit Jahrtausenden in einem Zustande der Unterwerfung gehalten wurden, als nicht mehr gültig ansieht. Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen.« Das Wort Freiheit hat heute durch die ganze Corona-Debatte eine ambivalente Bedeutung. Was Oppenheim – die sich in ihrer Rede als weiblicher Künstler (sic!) bezeichnet – damit meint, ist allerdings klar. Und sie macht das auch unmissverständlich deutlich. 

 

Spiel mit weiblichen Klischees. Meret Oppenheim, »Pelzhandschuhe«, 1936/1984, Ursula Hauser Collection, Schweiz (Foto: Stefan Altenburger Photography, Zürich © 2021, ProLitteris, Zürich)

 

Sie sprach damals auch Themen an, die im Lichte der heutigen Krisen umso aktueller wirken: »Seit einigen Jahren spricht man davon, dass die Menschen das Gleichgewicht in der sie umgebenden Natur stören. Steht hinter diesen berechtigten Gedanken nicht die verschleierte Einsicht, dass es sich um das Gleichgewicht der Menschheit selbst handelt, das gestört ist? Gestört durch dieses Gespalten-Sein in zwei sich in allem entgegengesetzte Geschlechter, wovon eines das absolute Übergewicht hat?« Und später, nachdem sie auf die Entwicklung des menschlichen Intellekts zu sprechen kommt: »Aber mir scheint, dass wir an einem Punkt angekommen sind, wo sich das Ausfallen dieser Eigenschaften auf unheilvolle Art spürbar macht. Die Eigenschaften, von denen ich spreche, heissen: Gefühl, Intuition, Weisheit.« Damit wollte sie sich nicht als besserer Mensch profilieren, sie wies lediglich darauf hin, dass der Ursprung dieses gestörten Gleichgewichts etwas tiefer lag und durchaus mit einer Haltung einherging, die es dringend zu überwinden galt. Viel weiter sind wir ehrlich gesagt diesbezüglich nicht gekommen. Aber das zu beleuchten, würde an dieser Stelle zu weit führen.

 

Meret Oppenheim, »Husch-husch, der schönste Vokal entleert sich, M.E. par M.O.«, 1934, Sammlung Bürgi, Bern (Foto: Roland Aellig, Bern © 2021, ProLitteris, Zürich)

 

Meret Oppenheim verstand sich nicht als feministische Künstlerin. Sie machte einfach, was ihr gefiel. Aber das war nicht immer einfach. Nach ihrer Rückkehr aus Paris lebte sie in Basel, wo sich die Eltern niedergelassen hatten. Sie besuchte dort an der Allgemeinen Gewerbeschule bis 1943 Kurse in Malerei und stand mit der lokalen Kunstszene in Kontakt. Sie erlernte damals das Restaurieren von Gemälden. In dieser Zeit setzte sie sich auch intensiv mit den Schriften von C.G. Jung auseinander, die ihr Vater zusammengetragen hatte. Am Familiensitz in Carona (Tessin), wo die Familie jeweils den Sommer verbrachte und während des Zweiten Weltkrieges dauerhaft wohnte, gab es eine umfangreiche Bibliothek mit einer Sammlung von Jungs Schriften sowie allen Bänden der Jahrbücher der Eranos-Tagungen, die jährlich in Ascona stattfanden. Daran erinnert sich eine Freundin von Meret Oppenheim, die spätere Direktorin der Galerie Maeght in Zürich, Elisabeth Kübler. Die Lektüre dieser Werke beeinflusste nicht nur die Künstlerin. Auch für Kübler war die Entdeckung der Alchemie in Oppenheims Elternhaus prägend. 

Meret Oppenheim schrieb all ihre Träume auf; viele spätere Bilder scheinen an diese Traumwelten zu erinnern. Und wer weiß, vielleicht war Jungs Schrift zur Alchemie eine weitere künstlerische Inspiration. In der Alchemie spielt die Figur des Hermes Trismegistos wiederholt eine Rolle; ihr Ursprung scheint ein doppelter zu sein, und zwar ist sie eine Art Vermischung zwischen Mercurius und dem altägyptischen Gott Thot. Unter anderem ist diese Göttergestalt zuständig für die »conjunctio oppositorum«, die Vereinigung der Gegensätze. Deuten Oppenheims Ausführungen zum »weiblichen Künstler« in diese Richtung? Es ging ihr definitiv nicht um das Zementieren von verhärteten Fronten, sondern um das Erschaffen von Neuem, um Transformation. 

 

Meret Oppenheim, »Octopus’s Garden«, 1971, Galerie Ziegler SA, Zürich (Foto: P. Schälchli, Zürich © 2021, ProLitteris, Zürich)

 

Durch die Heirat mit Wolfgang La Roche, den sie ein paar Jahre zuvor kennengelernt hatte, wurde Oppenheim 1949 offiziell Schweizerin. Sie zog nach Bern und eröffnete dort einen Antiquitätenladen. Die Zeit zwischen 1937 und 1954 bezeichnete die Künstlerin später als Krise; vielleicht war sie für die Schweiz auch eine Spur zu frech und selbstbestimmt. Oder sie vermisste die Atmosphäre und kreative Energie der Kunstmetropole Paris. Doch schließlich fand sie Anschluss an die Berner Kunstszene, bezog 1954 ein Atelier und es begann eine neue Schaffensphase. Die Bandbreite ihrer künstlerischen Aktivitäten war groß: So entwarf sie etwa 1956 für ein Stück von Pablo Picasso, das in einem Berner Kleintheater unter der Regie von Daniel Spoerri aufgeführt wurde, Kostüme und Masken. 

Die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Bern (Hodlerstraße 8–12, 3011 Bern) spiegelt die Radikalität, Freiheit und Vielfalt ihres Werks wider, die weit über die surrealistisch beeinflusste Phase hinausgeht, für die sie allgemein bekannt ist. Vielmehr umkreiste die Künstlerin immer wieder ähnliche Themen und fand in assoziativer und undogmatischer Weise jeweils unterschiedliche Formen des künstlerischen Ausdrucks dafür. Ihr selbstbewusster Umgang mit dem eigenen Werk zeigte sich schon in der großen Oppenheim-Retrospektive in der Kunsthalle Bern 1984, die ausgehend von einer Reihe von Zeichnungen mit dem Titel »M.O.: Mon exposition« entstand. Dort hielt Oppenheim eine mögliche Ausstellung von rund 200 Arbeiten in Miniaturansicht fest. Ihr Blick war ebenso von Humor und Witz geprägt, wie beispielsweise ihre Gedichte vor Augen führen. »Wirf alle Steine hinter dich / Und lass die Wände los«, heißt es dort etwa. Meret Oppenheim ließ nicht nur die Wände los.

 

Meret Oppenheim, »Maske mit ›Bäh‹-Zunge«, Privatsammlung, Schweiz (© 2021, ProLitteris, Zürich)

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