Anmerkungen zu einer empathischen Architekturtheorie – oder: Der Versuch eines Nachrufs auf Martin Steinmann

Frank R. Werner
7. april 2022
Martin Steinmann während eines Interviews anlässlich der Verleihung des Prix Meret Oppenheim an ihn im Jahr 2016. (Screenshot von YouTube: Elias Baumgarten)

 

Martin Steinmann war als Architekturtheoretiker und Architekt weiß Gott niemand, der seine Erkenntnisse und Weisheiten lautstark in alle Welt hinausposaunte. Er gehörte vielmehr zu jener Spezies von Menschen, die ihre Meinung eher leise und unaufdringlich, nichtsdestoweniger aber selbstbewusst und stets ausgesprochen anregend vorzutragen wissen. Dabei hatte er zunächst Germanistik und Anglistik studiert, ehe er sich zu einem Architekturstudium an der ETH Zürich einschrieb. Wobei die frühen sprachwissenschaftlichen Studien seinem späteren Werdegang durchaus zugutekommen sollten.

 

Aufbau des GTA und Forschung zur CIAM-Bewegung

Nach seinem Diplom, das er im Jahr 1967 bei Alfred Roth absolvierte, heuerte er als junger Kreativer für ein Jahr beim renommierten Architekturbüro von Ernst Gisel an. Obwohl Gisel später jüngere Architekten wie Arno Lederer und viele andere nachhaltig geprägt hat, war er von seinem Naturell her ausgesprochen wortkarg und der Theorie wenig zugeneigt, – was Martin Steinmann in dieser theorieaffinen Zeit der späten 1960er-Jahre zu dem existenziellen Schnitt bewogen haben mag, 1968 als Mitarbeiter und Assistent von Adolf Max Vogt ins Theoriefach überzuwechseln. Vogt war seinerzeit Vorstand des erst 1967 gegründeten und als »entbehrliches Anhängsel« zunächst kaum wahrgenommenen Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (GTA). Letzteres war mehr oder weniger beiläufig der Architekturfakultät der ETH Zürich angegliedert worden. In einem sehr aufschlussreichen Interview mit Andreas Kalpakci und Dora Imhof aus dem Jahr 2015 hat Martin Steinmann sehr anschaulich die eher improvisierten und noch nicht sonderlich zielgerichteten Anfangsjahre des GTA geschildert. Er ging im Laufe des Gesprächs auch auf die Schwierigkeiten der Gründerväter des Instituts mit dem aufbegehrenden politisierten Architektennachwuchs ein. Steinmann freilich bestärkte das erst recht darin, gut zehn Jahre lang konstruktiv am Aufbau und der Konsolidierung des GTA mitzuwirken. 

Schon bald begann er, im Rahmen seiner Assistententätigkeit über die Gründungsdokumente der CIAM-Bewegung (Congrès International d’Architecture Moderne) zu forschen und ein entsprechendes Archiv aufzubauen. Diese Arbeit erfolgte weitgehend unbeaufsichtigt und selbstmotiviert, weil es am GTA zunächst weder die dazu erforderlichen Hilfsmittel oder Räumlichkeiten noch erprobte Archivstrukturen gab. Auch das kurz zuvor gleichfalls am GTA installierte und zunächst von Martin Fröhlich betreute Semper-Archiv stand anfänglich vor ganz ähnlichen Problemen. Für Steinmanns Archivarbeit sollte es sich als sehr hilfreich erweisen, dass Carola Giedion-Welcker in ihrem Zürcher Domizil über einen großen Fundus an Originaldokumenten zur CIAM-Bewegung verfügte und er auch auf etliche Nachlässe von Schweizer CIAM-Mitgliedern zurückgreifen konnte. Steinmanns Interesse galt dabei vorrangig den semiotischen Grundlagen der klassischen Moderne.

 

Screenshot von YouTube: Elias Baumgarten
Eine Ausstellung mit durchschlagender Wirkung: »Tendenzen – Neuere Architektur im Tessin«

Etwa zeitgleich lernte Steinmann auch Aldo Rossi kennen, der an der Architekturfakultät der ETH zwar nur für kurze Zeit Gastprofessor und Lehrbeauftragter war, dessen urbanistische Denkgebäude aber den beruflichen Werdegang ganzer Studentengenerationen nachhaltig beeinflussen sollten. Nolens volens beschäftigte sich Steinmann zusätzlich mit den Theorien von Bernhard Hoesli, dem zweiten Gründervater des GTA. Hoesli hatte zuvor in den Vereinigten Staaten zusammen mit Colin Rowe, John Hejduk und anderen die legendäre Denkfabrik der Texas Rangers gegründet. Gleichsam als Quintessenz dieser Kooperation hatte Hoesli bereits 1968 ein bahnbrechendes Bändchen mit dem Titel »Transparency« ins Deutsche übersetzt und eigenhändig illustriert. Dessen Verfasser waren Colin Rowe und Robert Slutzky. Steinmann hat diesen Essay nachweislich als semiotische Anregung für seine eigene Arbeit an Zeichentheorien begriffen und wertgeschätzt.

Neben seiner archivalischen Tätigkeit und eigenen Forschungen ist es Steinmann aber auch gelungen, bedeutende Architekturausstellungen auf den Weg zu bringen. 1975 konzipierte er zusammen mit Thomas Boga die famose Wanderausstellung »Tendenzen – Neuere Architektur im Tessin«. Mit ihr wurden vor allem außerhalb der Schweiz einem erstaunten Publikum fundamental neue, radikale Erscheinungsformen regionalen Bauens gleichermaßen bild- und wortgewaltig nähergebracht. Die im Tessin entwickelten und von Steinmann analysierten oder beförderten architektonischen Konzepte lösten seinerzeit im Südkanton einen regelrechten Ansturm von Architekturtouristen aus aller Welt auf die in der Ausstellung dokumentierten Bauten aus.

 

Screenshot von YouTube: Elias Baumgarten
Von der Semiotik zur Phänomenologie: Steinmann als Chefredakteur der archithese

1978 wurde Martin Steinmann von Adolf Max Vogt promoviert. Seine Dissertation »CIAM – Dokumente 1928–1939« gilt noch heute als unverzichtbares Standardwerk zur Entstehungsgeschichte der europäischen Architekturavantgarde. Nach Beendigung seiner Assistentenzeit am GTA ging Steinmann 1979 kurzfristig als Gastprofessor ans MIT nach Cambridge. Zeitgleich übernahm er den Posten eines leitenden Redakteurs bei der Zürcher Zeitschrift archithese. Schon während der «heroischen» Phase der ersten 20 Hefte, die Stanislaus von Moos betreute, war Steinmann als Autor in Erscheinung getreten. So publizierte er zusammen mit Bruno Reichlin, dem er als Freund lebenslang verbunden blieb, 1976 unter dem Titel »Zum Problem der innerarchitektonischen Wirklichkeit« einen regelrechten Schlüsseltext. Dabei hatten der theoretisierende Kreative Reichlin und der kreative Theoretiker Steinmann als Autoren geradezu symbiotisch zueinandergefunden. Unter Bezugnahme auf Aldo Rossi kamen beide zu dem Schluss, »dass sich die Bedeutung der Architektur nur in der Beziehung zu sich selber, zu ihrer (eigenen) Tradition bestimmt. Wobei Tradition die Werke und die Vorstellung(en), die wir von diesen haben, gleichermaßen umfasst. Mit anderen Worten, dass die grundlegende Dimension der Bedeutung in der Bezogenheit der architektonischen Sprache auf sich selbst liegt, Autoreflexivität.« Reichlins und Steinmanns Essay endete mit dem Postulat, dass »es im Rahmen des so verstandenen Realismus« wieder darum gehen müsse, »das Vergnügen an der Architektur (ein)zufordern«.

Diesem Vergnügen konnte Martin Steinmann als Chefredaktor der archithese von 1979 an bis zu seinem unfreiwilligen Ausscheiden im Jahr 1985 nachgehen. Er wurde zu einem sanften, aber meinungsprägenden Spiritus Rector des Architekturdiskurses im Kontext der Irrungen und Wirrungen der internationalen Postmoderne. Einer seiner ersten Beiträge trug bezeichnenderweise den Titel »Von einfacher und gewöhnlicher Architektur«. Nicht von ungefähr erfuhr man durch ihn erstmals von Namen und Werken damals noch relativ unbekannter Architekten und Teams wie Michael Alder, Herzog & de Meuron, Diener & Diener oder gar Peter Zumthor. Für eines seiner letzten Hefte (archithese 6.1985) bat mich Martin Steinmann um einen einführenden Essay zum Thema Eklektizismus. Ich lehnte ab, aber er insistierte sanft und mit derartig vielen Anregungen, dass daraus einer meiner wichtigsten eigenen Aufsätze entstehen konnte: »Das Déjà-vu, Fluch und Segen der Vorbilder oder die Unfähigkeit zur Postmoderne«.

In den Jahren als Chefredakteur und Herausgeber der archithese vollzog sich gleichwohl ein Wandel im Denken und Handeln Martin Steinmanns. So konstatierte Martin Tschanz 1995 in der Nummer 56 der Zeitschrift Daidalos zum Thema »Magie der Werkstoffe«, dass Martin Steinmann als lange Zeit eingefleischter Semiotiker zunehmend über Architektur spreche, »die nicht mehr in ihrer Bedeutung, sondern in ihrer Wahrnehmung zu untersuchen sei, wobei als theoretischer Übervater Rudolf Arnheim anstelle von Umberto Eco tritt«. Diesem Paradigmenwechsel fort von der Semiotik hin zur Phänomenologie sollte Steinmann bis an sein Lebensende treu bleiben. Und das in seiner selbstverordneten Doppelrolle als Theoretiker und planender Architekt.

 

Bereits in der »heroischen« Phase der archithese, als Stanislaus von Moos die Hefte betreute, trat Martin Steinmann als Autor in Erscheinung. Zu Heft 1.1972 steuerte er beispielsweise einen Artikel über die Charte d’Athènes bei. (Foto: Elias Baumgarten)
Sprachrohr und Theoretiker des Schweizer Minimalismus

Nach seinem unfreiwilligen Abschied von der archithese machte sich Martin Steinmann 1985 zusammen mit seiner begnadeten Co-Redaktorin Irma Noseda selbstständig. Sie gründeten die arge baukunst und machten zusammen, was man in einer solchen Situation eben so tut: Bücher produzieren, Zeitschriftenbeiträge schreiben und Ausstellungen machen. Martin Steinmann wurde dabei zunehmend zum Theoretiker und Sprachrohr des Schweizer Minimalismus. Damals noch jüngere Architekten wie Burkhalter Sumi, Gigon Guyer, Roger Diener, Peter Meili, Herzog & de Meuron und viele andere verdanken ihm sowohl den theoretischen Unter- als auch Überbau inklusive nachhaltiger Förderung. Was mitunter so weit ging, dass Steinmann sich bei Bedarf sogar als planender Architekt selbst mit einbrachte. So wurde er mit Axel Simons Worten für eine ganze Generation zu deren »Sigfried Giedion, zu ihrem Peter Meyer; ein Poet mit Auftrag und Anspruch«.

 

Steinmann war, was den wenigsten glückt: Theoretiker und Entwurfsarchitekt zugleich

»La forme forte« lautete der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 1991 in der Zeitschrift Faces. Er diente Steinmann 2003 als Vorlage für eine umfangreiche Sammlung eigener Texte aus dem Zeitraum zwischen 1972 und 2003, die er als Standortbestimmung und Vermächtnis verstanden wissen wollte. Bereits Ende der 1980er-Jahre war er nach diversen akademischen Zwischenstationen und fachspezifischen Auszeichnungen (unter anderem dem Schelling-Preis für Architekturtheorie) als ordentlicher Professor an die EPF Lausanne berufen worden. In späteren Interviews hat er immer wieder betont, dass er dort nicht wie häufig vermutet Architekturgeschichte gelehrt, sondern an seinem Lehrstuhl dezidiert als Architekturtheoretiker und Entwerfer gewirkt habe. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 versuchte er denn auch, bei seinen Studierenden Phänomenologie und Baukunst synergetisch, sprich wechselseitig stimulierend miteinander zu vernetzen. Kurz nach seiner Emeritierung betätigte er sich zusammen mit seinen Architektenfreunden Diener & Diener noch einmal ganz konkret als Entwurfsarchitekt beim Neubau des 2015 fertiggestellten Erweiterungstraktes des Stadtmuseums von Aarau; fast so, als wolle er ein letztes Mal den Beweis antreten, zu welch intellektueller und bildmächtiger Leistung Theorie und Bau im Doppelpack fähig sind. 

Am 10. März 2022 ist Martin Steinmann im Alter von achtzig Jahren verstorben. Er fehlt seinem schönen Wohnhaus, seiner großen Bibliothek voller Bücher mit Bleistiftanmerkungen, seinem Entwurfsatelier. Im Architekturmagazin Hochparterre lässt Axel Simon ihn und sein Werk mit einem vielfach überlieferten Zitat nachklingen: »Andere werden aus Abneigung erfinderisch, ich aus Zuneigung.« In der Tat schienen ihm Verunglimpfungen oder gar Hass selbst in hitzigsten Architekturdebatten und bei Lagerbildungen gleichsam von Natur aus fremd zu sein. Trotzdem machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube, sondern schlug sich selbst in Zeiten, in denen es durchaus nicht opportun oder populär war, auf die Seite der stillen, wirkmächtigen Minimalisten. Was nach einem langen, ereignisreichen Leben bleibt, ist also nicht nur die sprichwörtliche »Recherche Patiente« im Sinne Le Corbusiers, sondern vor allem eine Strategie des empathischen Sich-Einlassens auf die uralten Kräfte architektonischer Bildentwürfe. Damit wird uns der stille, liebenswerte Zeitgenosse und Kollege Martin Steinmann hoffentlich auf immer im Gedächtnis bleiben. 

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