Arno Brandlhuber: »Ich verkünde das Ende des objekthaften Möbeldesigns!«

Ulf Meyer
5. maart 2020
Arno Brandlhuber (Foto © Noshe)
In der Ausstellung »Home Stories. 100 Jahre, 20 Interieurs« sticht Ihre »Antivilla« heraus. In der ehemaligen Fabrik bei Potsdam gibt es nur textile Raumteiler und blanken Beton statt bourgeoisem Chic. Ist bürgerliches Wohnen »out«?


Wohnen ist ein unabdingbares Gut mit einer langen und interessanten Ideengeschichte. Das kommt in der Ausstellung des Vitra Design Museums kaum rüber, denn sie ist objektlastig. Soziale Rollenvorstellungen beispielsweise zeigt sie nicht. Mir fehlt das »Bachelor Pad«, die Junggesellen-Wohnung von Hugh Hefner, dem ehemaligen Chefredakteur des Playboy. Sie wäre ein schöner Kontrast gewesen zum Wohnbauprogramm »Das Neue Frankfurt« von Ernst May und der Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky. Schon in seiner ersten Ausgabe beschäftigte sich der Playboy mit Interieurs und hat die Eames- und Saarinen-Möbel populär gemacht.

Heute geht es um den sogenannten Mietendeckel und bezahlbares Wohnen. Am Wohnen hängen sozioökonomische und -kulturelle Fragen, die über das Interior Design hinausgehen. Das blendet die Ausstellung leider aus. 

Es ist eine Design-Ausstellung.


Design bedeutet doch nicht, soziale Aspekte zu ignorieren. Vielleicht ist das Defizit der Schau der Tatsache geschuldet, dass das Museum von einem Hersteller betrieben wird. Vitra hat große Produktionskompetenz und Trends immer frühzeitig erkannt, aber beschäftigt sich eben mit Objekt-Produktion.

In den Großstädten leben heute viele Menschen in kleinen Wohnungen, in die keine teuren Möbel zu passen scheinen. In Japan zum Beispiel lädt man niemanden nach Hause ein. Die Wohnung ist dort kein Statussymbol, sondern ein Refugium, das niemanden etwas angeht. Man lebt in der Stadt, im Café – in der Wohnung wird nur geschlafen. Europäische Städte werden auch urbaner und dichter, Wohnformen verändern sich…


Bei der Kommune I in den späten 1960er-Jahren in Berlin wurden alle Fragen noch in der Gruppe diskutiert, die Wohnung war als »Modell der Gesellschaft im Kleinen« gedacht. Heute gibt es Untersuchungen, wonach zunehmend einzeln im Bett am Laptop gearbeitet wird. Das Wohnzimmer gilt als »tot«, weil nicht mehr viel ferngesehen wird. 

Brandlhuber+ Emde, Burlon mit Muck Petzet Architekten, »Terrassenhaus«, Berlin, 2018 (Foto: Erica Overmeer)
Es gibt weniger traditionelle Kernfamilien und dafür mehr Patchwork-Strukturen. Im Ausstellungskatalog wird eine Studie zitiert, nach der Student*innen, deren Wohnheime in kleine Zimmer und große Gemeinschaftsflächen aufgeteilt sind, fast nur ihre Zimmer nutzen. Genügt also ein Kapsel-Hotel, wie Kisho Kurokawa es entworfen hat?


In Japan geht man sogar in die Kapsel eines Love-Hotels, um Sex zu haben. In Europa hingegen wird das Bett zum Wohnzimmer. Immerhin aber haben europäische Wohnungen noch eine Küche…

…wobei das Angebot an Convenience-Food zunimmt…


…wie die Anzahl der Lieferdienste. In London werden schon Restaurants ganz ohne Gasträume gebaut, die ihre Kunden nur noch beliefern. Sie verzeichnen fast nur Einzelbestellungen. Was soll vor diesem soziokulturellen Hintergrund noch ein teures Wohninterieur? Ich verkünde deshalb das Ende des objekthaften Möbeldesigns! Wichtiger als ein schöner Stuhl ist heute eine gute Matratze!

Da erscheint Claude Parents »vivre à l’oblique« visionär: Seine Wohnung in Neuilly-sur-Seine stattete er 1973 mit schrägen Ebenen aus, die als Sitzgelegenheiten, zum Essen, Arbeiten oder auch als Liegen genutzt wurden. Mir fällt auf, dass heute viele Arbeitsplätze kalkuliert wohnlicher werden. Mancher Chef spendiert abends Pizza, und man sitzt noch lange im Büro und merkt kaum, wie sich die Überstunden addieren…


Ich habe mir sagen lassen, es gebe Arbeitgeber, die bieten sogar Bars und ein DJ-Pult im Büro. Als Zuhause genügt dann eine kleine Zelle. Die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verschwindet, genau wie jene zwischen Arbeits- und Privatleben.

Ich finde das nicht nur schlecht. Ist es denn nicht urban und modern, spart Wege und ermöglicht Dichte und Nutzungsmischung? Viele Arbeitsplätze sind emissionsfrei, machen weder Dreck noch Lärm. Die segregierte Stadt der Moderne ist passé.


Die Verdichtung unserer Städte ist sinnvoll, und es gibt intelligente Lösungen für Mikro-Wohnungen. Darauf hätte die Ausstellung eingehen können!

Wie fühlt es sich für Sie an, das eigene Werk darin zu sehen?


Das interessiert mich nicht! Ich frage mich vielmehr, wie all die gezeigten Objekte zustande gekommen sind. Haben unterbezahlte junge Expats die Entwürfe gezeichnet? Ich interessiere mich für die Genese.

Ist es wie beim Fleisch, das besser schmeckt, wenn man weiß, dass das Tier nicht gequält wurde?


Ja, wenn schon Fleisch, dann wild gefangener Fisch! 

In der Ausstellung fehlt zudem auch das Thema »Ökonomie der Daten« im privaten Haus, denn die wird bald relevanter sein als die »Ökonomie der Möbel«.

Brandlhuber+ Emde, Burlon, ERA, »Brunnenstraße 9«, Berlin, 2010 (Foto: Erica Overmeer)
Lassen Sie uns über Wirtschaft und Politik sprechen: Deutschland ist Mieter-Land, die Home-Ownership-Rate ist niedrig.


Das ist gut so! Aber leider müssen ja selbst die stadteigenen Wohnungsbaugesellschaften 5 Prozent Rendite abwerfen und bauen deshalb überall langweiligen Standard. Besser finde ich, was die französischen Architekten Lacaton & Vasalle in Bordeaux im Quartier du Grand Parc realisiert haben. Drei bestehende Hochhausscheiben aus den 1960er-Jahren wurden um Wintergärten ergänzt, die neue Wohnqualitäten bringen. 

Mein Haus an der Brunnenstraße und das Terrassenhaus in Berlin-Wedding haben rohe Betonwände, in die man bohren darf. Es gibt lediglich ein Bad und Küchenanschlüsse, die Räume müssen die Nutzer*innen selber gestalten. Ich möchte Kreativität und Aneignung stimulieren.

Im sozialen Wohnungsbau gibt es fast nur deterministische Grundrisse, die sich wenig bis gar nicht anders nutzen lassen.


Viele Menschen hängen ökonomisch davon ab, zu Hause arbeiten zu können. Umnutzung sollte deshalb leicht möglich sein, im Grundriss ebenso wie auf städtebaulicher Ebene. Früher war der Berliner Wohnblock dafür berühmt, verschiedenste Nutzungen und Preislagen in einem Haus zu vereinen. Wir entledigen uns einer sozialen Kompetenz, wenn wir alles zwischen zentralisierter Verwaltung und zunehmend vereinzelten Bürger*innen regulieren.

Konservative Architekten wie Christoph Mäckler sprechen sich auch gegen Abstandsregelungen und Funktionszuschreibungen im Städtebau aus…


…und Patrik Schumacher sogar gegen jegliche staatliche Reglementierung. Mein Ansatz ist: »Make bureaucracy sexy again.« Ich zahle gern Steuern. Die skandinavischen Länder sind mit ihren hohen Steuerquoten gut gefahren. Hans-Jochen Vogel hat einst für die SPD postuliert: Private Spekulationsgewinne im Wohnungsbau werden abgeschöpft. Der Verkauf der Wohnungsbaugesellschaften an angelsächsische Hedge-Fonds geschah in Berlin später allerdings just unter SPD-Führung.

Zurück zum Thema »Interieur«…


Wenn man ein Anliegen nicht in der Architektur durchskalieren kann, wenn es kein tiefergehendes »Design-Thinking« gibt, dann interessiert mich die sogenannte Interior Architecture nicht. Möbeldesign sollte eine Fortsetzung des architektonischen Entwurfs sein. Es braucht Ermöglichungs-Möbel und keine Trophäen. Im kleinen Massstab habe ich dieses Talent fürs Design leider nicht. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Arno Brandlhuber studierte Architektur an der TU Darmstadt und der Accademia di Belle Arti in Florenz. 2006 gründete er das Büro Brandlhuber+ in Berlin. Seit 2008 arbeitet er mit Markus Emde und Thomas Burlon zusammen (Brandlhuber+ Emde, Burlon). Er unterrichtete an der Akademie der Bildenden Künst in Nürnberg. 2017 wurde er als Professor an die ETH Zürich berufen.

»Home Stories. 100 Jahre, 20 Interieurs«
Vitra Design Museum, Charles-Eames-Straße 2, Weil am Rhein
Die Schau ist bis zum 23. August 2020 täglich zwischen 10 und 18 Uhr geöffnet.

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