Kriegsfotograf Alex Kühni: »Am Krieg ist nichts Glorreiches oder Heldenhaftes, er bringt nur Zerstörung und Leid«

Nadia Bendinelli
30. août 2023
Oktober 2022: Ein ukrainischer Panzer passiert auf dem Vormarsch bei der Stadt Oskil einen zerstörten russischen Panzer, der das von der russischen Armee verwendete »Z«-Erkennungszeichen trägt. (Foto: © Alex Kühni)

 

Alex, auf deiner Website stellst du klar, dass deine Fotografien Geschichten von Menschen in Kriegsgebieten erzählen und nicht als Ausdruck einer politischen oder ideologischen Haltung zu verstehen sind. Doch ist es überhaupt möglich, den Krieg zu fotografieren, ohne dabei politisch zu sein?

In der Ukraine ist es einfacher, sich von der politischen Dimension des Konflikts zu distanzieren. Als ich im Gazastreifen war, herrschte ein politisches Chaos, dort fiel es mir schwerer. Was auf meiner Website steht, erklärt meinen Anspruch: Ich möchte die Menschen zeigen, die den Krieg erleben müssen, und ihre Geschichten erzählen. Zu untersuchen, welche Ziele ein bestimmter Staat verfolgt, was Selenski oder Putin antreibt, ist mir zu hochtrabend. Politiker interessieren mich wenig: Sie sind zu weit entfernt von den Konsequenzen ihres Handelns. Es ist ein Charakteristikum des Krieges, dass Entscheidungen von Leuten getroffen werden, die die Konsequenzen nicht selbst tragen müssen. Keine Granate wird in ihrer Nähe einschlagen oder ihre Angehörigen treffen. Für Putin zum Beispiel geht es um Macht, er will »die Geschichte korrigieren«. Aber diese Operation ist dermaßen fehlgeleitet, dass niemand wirklich verstehen kann, was er da macht. Der politische Aspekt hat für mich also nichts mit dem zu tun, was im Endeffekt passiert. Ich frage mich stattdessen lieber, welche Auswirkungen politische Entscheidungen für die einfachen Leute haben. 

Was konntest du diesbezüglich beobachten?

Im Donbass sind die Städte zu zwei Dritteln leer. Dort bleiben ältere Bewohner zurück, die sich vielleicht früher eine bescheidene Wohnung kaufen konnten und jetzt mit einer minimalen Rente auskommen müssen. Sie haben keine Möglichkeit, ihre Heimat zu verlassen, bleiben ist ihre einzige Option. Diese Menschen haben am allerwenigsten mit dem Krieg zu tun: Sie möchten nur in Ruhe leben. Stattdessen sind sie einer Art »Lotterie« ausgesetzt: Jeden Tag schlagen Raketen ein, und die einzige Frage ist, ob heute eine davon ihr Haus zertrümmert oder nicht.

In der Ukraine ist die Lage etwas speziell, und die Meinungen zum Krieg in der Bevölkerung gehen weit auseinander: Einige wollen oder können nicht fort – ihr Zuhause ist das Einzige, was sie noch haben. Andere sagen sehr offen, dass sie sich wünschen, bald zu Russland zu gehören, und auf den Einmarsch der russischen Truppen warten; mit dem Krieg und der Zerstörung durch Russland werden das aber immer weniger. 

Ein schärferes Beispiel prekärer Umstände findet man im Nahen Osten: Dort bekommen die Leute nicht die nötigen 6000 Franken zusammen, um über die Balkanroute oder die Mittelmeerroute nach Europa zu flüchten. Sie haben auch kein Geld, um nach Saudi-Arabien oder in den Iran zu gehen. Sie müssen also bleiben und ausharren.

November 2016: Kurdische Soldaten während Kämpfen mit der terroristischen Organisation »Islamischer Staat« (IS) in der Nordirakischen Stadt Baschiqa. (Foto: © Alex Kühni)

Du warst oft mit den Soldaten an der Front, nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Irak, in Syrien und im Libanon: Was sind das für Menschen? Konntest du ähnliche Haltungen beobachten, oder sind sie von Land zu Land und von Krieg zu Krieg sehr unterschiedlich?

Es gibt unterschiedliche Voraussetzungen: Im Irak zum Beispiel wusste jeder, dass innerhalb von zwei bis drei Jahren die IS-Terroristen vertrieben oder alle tot sein würden. In der Ukraine passiert das Gegenteil: Die Verteidiger wissen nichts. Wird ihr Land in Zukunft noch existieren? Scheitert die Offensive? Was passiert, wenn in Amerika ein neuer Präsident gewählt wird? Putin hat Zeit, das Land langsam zu fragmentieren. Diese Ungewissheit versetzt die Menschen in Existenzangst. 

Die ukrainischen Soldaten sind sehr neugierig: Sie fragen, woher ich komme, denn sie wissen, wie die verschiedenen Länder zu ihnen stehen und wer beispielsweise welche Waffen liefert. Sie kennen ein paar Fakten über die Schweiz und möchten sie erklärt haben. Manchmal fragen sie nach meiner persönlichen Haltung. Es gibt Soldaten, die sind optimistisch; andere spielen Optimismus vor, das ist sehr verschieden. Es sind sehr unterschiedliche Menschen, die aus ganz verschiedenen Lebenssituationen gerissen wurden: Bis vor kurzem waren sie Lehrer oder haben in einer Werbeagentur gearbeitet. Es gibt also nicht den ukrainischen Soldaten, sondern unzählige Einzelschicksale.

Eine Geschichte, an die ich mich gerne erinnere, erlebte ich in einem noch offen gebliebenen Supermarkt, nicht allzu weit von der Front entfernt. Ich hatte eingekauft, denn ich wollte für den Fahrer und die Übersetzerin, die mich begleiteten, kochen. Als es ans Bezahlen ging, funktionierte meine Kreditkarte nicht. Zum Glück hatte ich Bargeld dabei. Hinter mir stand ein Soldat. Er trat vor und bezahlte meinen Einkauf mit seiner Kreditkarte. Für ihn waren die umgerechnet 25 Franken viel Geld, so wollte ich natürlich nicht profitieren und versuchte, ihm das Bargeld zu geben – richtiger wäre es gewesen, ich hätte seinen Einkauf bezahlt. Er sprach etwas Englisch und insistierte: Er bedankte sich für mein Kommen, dafür, dass ich über den Krieg berichte und das Risiko auf mich nehme. Für ihn waren die Einkaufskosten eine »ehrliche Bezahlung«. Ich bin ihm hinterhergelaufen und habe ihm mein Taschenmesser geschenkt. Darüber freute er sich sehr, und mir war etwas wohler. Es sind diese Momente, die mir zeigen, wie die Stimmung unter den Soldaten ist. Manchmal sind es schöne Momente, manchmal sehr traurige – alles hat zusammen und nebeneinander Platz.

Wie entscheidest du, welche Geschichten du mit der Kamera festhältst? Folgst du einem Plan oder lässt du dich spontan auf die Situationen ein?

Beides. Oft geschehen Dinge, die man nicht vorhersehen kann und die sehr spannend sind. Mein Plan im April war, in die Nähe der damals umkämpften Stadt Bachmut zu reisen, um Erfahrungsberichte von Soldaten und Zivilisten zu sammeln. Ich war einige Male dabei, als die Ukrainer ihre Städte zurückeroberten. Bei diesen Aktionen trifft man auf Schauplätze, an denen 20, 30, manchmal gar 40 Leichen liegen. Es gibt einige NGO, die die Toten bergen und den Austausch der sterblichen Überreste zwischen der Ukraine und Russland organisieren. Ich hatte bereits über die gefallenen Soldaten recherchiert, um zu erfahren, was mit ihnen passiert. So wollte ich einmal einen solchen Einsatz begleiten. Wir mussten Felder betreten, die dafür entmint worden waren, und uns darauf verlassen, dass sie auch wirklich sicher sind – das fand ich ganz unangenehm. An dem Tag geschah dann etwas Besonderes: Wir fanden Knochen, die ziemlich alt aussahen. Sie stammten von einem russischen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Nebenan lagen die Kämpfer von heute. Vergangenheit und Gegenwart stapeln sich in der Ukraine übereinander. Das eröffnet eine neue Perspektive auf die Geschichte. 

April 2022: Ukrainische Feuerwehrleute stehen vor einem zerstörten Wohnblock in der Stadt Borodjanka. (Foto: © Alex Kühni)
Oktober 2022: Gefallene russische Soldaten außerhalb der durch die ukrainischen Streitkräfte zurückeroberten Stadt Liman. (Foto: © Alex Kühni)

Wie werden diese Geschichten zu Bildern?

Ein großer Teil meiner Arbeit besteht im Antizipieren. Nehmen wir zum Beispiel eine der Fotografien, die bei den Swiss Press Photo Awards ausgezeichnet wurden: Während der Fahrt sahen wir einen ausgebrannten russischen Panzer am Straßenrand. Vor kurzem hatten wir eine Kolonne ukrainischer Panzer überholt. So war klar, gleich würden sie dieselbe Stelle passieren. Auf meinem Foto ist links der russische Panzer mit dem aufgemalten »Z« zu sehen, rechts rollt ein ukrainischer mit blau-gelber Flagge in entgegengesetzte Richtung vorüber. Ich wusste, dieses Bild kann die Offensive gut darstellen: Beide Kriegsparteien sind abgebildet, die eine ist zerstört und die andere rückt vor. 

Ein weiteres Bild dieser Serie ist an einer verminten Straße entstanden. Es zeigt Leichen und einen Panzer im Hintergrund. Rundherum sind die Granaten der Artillerie eingeschlagen. Das Licht wechselte ständig. Ich musste in Sekundenschnelle einen Weg finden, die Szene zu fotografieren, und zwar so, dass sie publiziert werden kann. Die Toten durften auf dem Foto also nicht identifizierbar sein. So habe ich den Fokus auf den Panzer gerichtet und die Körper in der Unschärfe gelassen. Ich weiß, in der Redaktion des Tages-Anzeigers wurde diskutiert, ob das Foto überhaupt publiziert werden soll. Am Schluss erschien es auch in der gedruckten Ausgabe.

Wo liegt die Grenze dessen, was gezeigt werden kann? Was für manche Menschen noch der Information dient, ist für andere schon lange zu viel.

Ich sehe es als eine meiner Aufgaben, das Grauen zu abstrahieren, wenn ich den Krieg fotografiere. Manchmal ist das ein Balanceakt, denn die Realität ist oft zu verstörend. In einem zweiten Schritt müssen die Redaktionen entscheiden, was sie publizieren wollen. Meistens sind die Redaktoren von meinen Bildern überzeugt und finden, einige davon müsse man zeigen. Die Gefahr ist aber immer, dass Leser ihr Abonnement kündigen, weil sie solche Bilder in ihrer Frühstückszeitung nicht sehen wollen oder es einfach nicht richtig finden, sie überhaupt zu veröffentlichen. 

Die Toleranz ist mittlerweile aber größer geworden als noch vor fünf oder zehn Jahren. Das hat sehr stark mit den Sozialen Medien zu tun: Man kann heute den Ukraine-Krieg auf TikTok, Instagram und so weiter verfolgen, und dabei ist schonungslos alles zu sehen. Es bleibt aber eine Haltungsfrage: Dient das Bild der Geschichte? Ich finde, Krieg bedeutet nicht nur Sachschaden, es geht um die Vernichtung von Menschenleben. Das muss gezeigt werden.

Januar 2017: Zivilisten passieren die Leichen von getöteten IS-Kämpfern während der Rückeroberung der nordirakischen Stadt Mossul aus den Händen der Terrormiliz. (Foto: © Alex Kühni)
Januar 2017: Irakische Soldaten waschen während der Schlacht um Mosul vor einer Verwundetensammelstelle Blut von Bahren. (Foto: © Alex Kühni)

Wir haben nun besprochen, was mit den fertigen Bildern geschieht und wie die Menschen sie rezipieren. Doch mich würde noch interessieren, wie die Personen vor Ort auf dich und deine Kamera reagieren. Beeinflusst deine Anwesenheit gewisse Situationen?

Obwohl man beim Fotografieren versucht, »unsichtbar« zu bleiben, hat man unwillkürlich einen Einfluss auf das Geschehen. 2018 war ich mit irakischen Spezialkräften im zurückeroberten Mosul unterwegs. Sie suchten IS-Schläferzellen. Schließlich wurde bekannt, dass sich in einem Haus ein Bombenbauer versteckt hielt. In den frühen Morgenstunden wurde das Gebäude gestürmt, und ich durfte dabei sein. Die Tür wurde eingeschlagen, die Soldaten überwältigten die Familie und nahmen zwei Söhne fest, die im Verdacht standen, dem IS anzugehören. Der Mann, der das Verhör führte, stieß den Kopf eines der Gefangenen gegen die Wand. Es folgte eine Diskussion zwischen den Soldaten und dem Major. Ich fragte den Übersetzer, was los sei. Er antwortete knapp, das erkläre er mir später. Es ging darum, dass der Major den Soldaten befahl, sich zurückhalten, denn es sei ein Journalist dabei. Man muss sich stets im Klaren sein: Obwohl man dabei sein darf und fotografieren kann, passiert vor der Kamera oft nicht genau das, was geschehen würde, wäre man nicht zugegen.

Kann man zudem sagen, man darf als Fotojournalist zwar dabei sein, doch Einmischung ist unerwünscht? Und möchte man überhaupt involviert sein?

Es kommt auf die Situation an. Ich habe schwierige Momente erlebt, was die Behandlung von Gefangenen oder Festnahmen anbelangt. In einer Basis in Mosul, wo IS-Mitglieder inhaftiert waren, zeigten mir die Soldaten Videos, wie sie mit ihnen umgehen. Es war sehr schlimm zu sehen, wie sie diese Leute gequält haben. Da fragt man sich, was wäre, wenn Ähnliches vor den eigenen Augen stattfinden würde. Zum einen besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Soldaten, denn sie haben dich ja mitgenommen. Sie sind im Kriegsrausch, bewaffnet und gewalttätig. Und dann drängt sich eine moralische Frage auf: Würdest du für einen IS-Terroristen einstehen und sagen, bitte macht das nicht? Ich denke, ich würde das nicht tun. Nicht einmal aus Feigheit: Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in einem inneren Konflikt. Zwei Tage zuvor war ich an einer Verwundetensammelstelle, als ein Vater mit seinem Kind in den Armen kam. Es hatte eine Kopfwunde. IS-Scharfschützen hatten auf es geschossen, als die Eltern fliehen wollten. Nach diesem Erlebnis hat mich die Gewalt gegen die Terroristen offen gestanden weniger gestört. Im Nachhinein ist es für mich schwierig, so empfunden zu haben. Es ist einfach nicht richtig, so zu denken. Solche Momente gehen einem nach, ob man will oder nicht. Schon oft habe ich mich deswegen kritisch mit meiner Rolle auseinandergesetzt. Dabei kam ich immer wieder zu dem Schluss, dass schlimme Dinge unabhängig davon geschehen, ob ich nun dort bin oder nicht. In Kriegsgebieten gerät man unweigerlich in ethisch schwierige Situationen. Man muss stets entscheiden, wie stark man involviert sein möchte. 

Eingegriffen habe ich immer dann, wenn jemand verletzt war und meine Hilfe benötigt wurde. In solchen Situationen habe ich die Kamera weggelegt und alles getan, was mir möglich war. Ich könnte es nicht mit mir vereinbaren, in diesen Augenblicken zu fotografieren. Wenn ich gebraucht werde, um jemandem zu helfen, dann ist die Fotografie unwichtig.

April 2023: Ein ukrainisches »Grad«-Mehrfachraketenwerfersystem feuert nahe Bachmut auf vorrückende russische Truppen. (Foto: © Alex Kühni)

Inwiefern haben deine Erfahrungen deine Denkweise geprägt? Hast du dich verändert? 

Das müsste man wohl mein Umfeld fragen, denn wahrscheinlich merkt man die Veränderung an sich selbst weniger. Gegenüber gewissen Dingen wird man bestimmt abgehärtet, an andere gewöhnt man sich nie. Ich habe das Gefühl, es gibt nicht mehr viel, ob Tod oder schlimme Szenen, das mich noch schockieren könnte. Man kann sich aber nie an die Emotionen gewöhnen. Die Verzweiflung und die Schreie der Angehörigen verfolgen mich – nicht etwa der Anblick einer enthaupteten Person. Von solchen Bildern träumt man zwar, kann sie aber letztendlich besser loslassen. Die Emotionen wirken viel stärker. Dazu gehört auch die eigene Angst: In der Ukraine habe ich erlebt, was es heißt, von der Artillerie beschossen zu werden. Man muss in Deckung gehen, hört ein schrilles Pfeifen und sieht Explosionen. Das ist ein enormer Stress für den Körper. Im April fuhren wir in einem Auto hinter einem Konvoi her, der Bachmut verließ. Kurz zuvor hatte ich noch fotografiert, wie die ukrainische Artillerie auf die russische schoss. Die Russen haben ihre Position erkannt und zurückgefeuert. Eine Granate explodierte links hinter unserem Auto, eine andere schlug etwa 100 Meter rechts ein. Du sitzt da und erwartest, dass dir plötzlich schwarz vor Augen wird. Das ist eine kolossale Anspannung. Man hat riesige Angst – nicht etwa vor dem Tod, sondern davor, ohne Beine in einem Spital aufzuwachen. Es braucht eine Weile, ehe man wieder zur Ruhe kommt.

Ich habe den Vorteil, dass der Krieg für mich eine Parallelwelt ist, in die ich reise. Jederzeit kann ich wieder in die Schweiz zurückkehren. Ich könnte nicht Rettungssanitäter oder Notarzt sein. Denn dann müsste ich solche Szenen jeden Tag sehen.

Wie ist es, in die Schweiz zurückzukommen, wo sich die Menschen über Nichtigkeiten heftig beklagen und im Verhältnis mit kleinen Problemen konfrontiert sind? Kann man diese beiden Realitäten klar voneinander trennen?

Die Tendenz, etwas zynisch zu werden, ist bestimmt da. Dennoch werde ich jedes Mal schnell wieder in der hiesigen Realität assimiliert. Wenn ich beispielsweise an einem Sonntag zurückkehre, stehe ich am Montag bereits wieder vor einer Klasse. Meine Schüler befinden sich in einer ganz anderen Dimension: Sie beschäftigt, ob ich sie eine schwierige Prüfung schreiben lasse oder ob es Abzüge gibt, weil sie die Aufgaben nicht erledigt haben. So bin ich schnell wieder vom Alltag verschlungen. Tatsächlich gibt es Dinge, die mich heute weniger stören. Und trotzdem kann ich mich noch über andere Autofahrer ärgern. 

Ich finde es gefährlich, sich im Zynismus gehenzulassen. Ich könnte anfangen, die Welt komplett anders zu betrachten, und den Leuten sagen: »Jetzt tu nicht so: Ich war in der Ukraine, da haben sie nicht mal mehr ein Dach über den Kopf.« Mein Umfeld könnte dann nichts mehr mit mir anfangen. Darum unterhalte ich mich lieber über die Schule. Ich habe oft keine Lust, über den Krieg zu sprechen. Mit anderen Journalisten oder Soldaten geht das, aber Menschen, die dergleichen nicht erlebt haben, fühlen sich schnell vor den Kopf gestoßen. Manchmal werde ich gefragt, welch üble Sachen ich gesehen habe. Doch die Antwort führt dann immer zu Verlegenheit. Was will man dazu auch sagen. Im Grunde möchte man meine Geschichten gar nicht wirklich hören. So habe ich gelernt, nicht allzu ausführlich über meine Erlebnisse zu sprechen. 

Die allermeisten Menschen in der Schweiz haben vom Krieg andere Bilder im Kopf. Sie kennen ihn nur aus Filmen oder der eigenen Vorstellungswelt. Doch das entspricht nicht der Realität: Am Krieg ist nichts Glorreiches oder Heldenhaftes, er bringt nur Zerstörung und Leid. Ich denke, diese Diskrepanz macht es schwierig, über ihn zu sprechen.

November 2016: Kinder in der irakischen Stadt Al-Qayyara spielen Fußball in der Nähe brennender Ölquellen. Die Ölquellen wurden während Kämpfen mit der irakischen Armee von Mitgliedern der terroristischen Organisation IS in Brand gesteckt. (Foto: © Alex Kühni)

Wirst du bald wieder in die Ukraine reisen oder hast du bereits neue Ziele? 

Ich möchte im Moment beim Ukraine-Thema bleiben. Vielleicht werde ich noch im Herbst dorthin zurückkehren. Nächstes Jahr möchte ich mehrere Monate am Stück verreisen, um neuen Zielen nachzugehen; nicht unbedingt nur in Kriegsgebieten – auch wenn das mein Fokus bleiben wird. Für eine kleine Reportage war ich zum Beispiel einmal auf der australischen Weihnachtsinsel. Dort ereignet sich ein spektakuläres Naturschauspiel, das ich schon immer sehen wollte: Einmal im Jahr wandern 50 Millionen Rote Krabben aus dem Dschungel Richtung Strand und sorgen dabei für beeindruckende Bilder. Einige Straßen werden deswegen gesperrt, und wenn man doch fahren muss, werden die Krabben dafür weggewischt. Mehrere Wochen auf dieser Insel hatten auf mich einen Detox-Effekt. Die Natur hilft mir immer weiter. Wenn ich aus der Ukraine zurückkehre, fahre ich gerne übers Wochenende nach Graubünden. Dort kann man Eichhörnchen oder Vögel aus der Hand füttern. So was tut dann einfach nur gut.

Alex Kühni, 1982 in Bern geboren, ist Fotojournalist mit Schwerpunkt Front- und Kampfgebiete. In der Schweiz ist er Dozent an der Schule für Gestaltung Bern und fotografiert unter anderem für das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS). Bereits 2018 gewann er den Swiss Press Photo Award in der Kategorie »International«, eine Auszeichnung, die er dieses Jahr noch einmal erhielt – zusammen mit dem Titel Swiss Press Photographer of the Year.

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