Lieber Taten statt Worte
Elias Baumgarten
3. novembro 2023
Foto: Elias Baumgarten
Bauteile wiederzuverwenden, birgt enormes Potenzial. Trotzdem fasst das zirkuläre Bauen nur langsam Fuß. Das Buch »Bauteile wiederverwenden« gibt Hilfestellung und bringt zur Sprache, wie Re-Use-Projekte noch ausgebremst werden.
Diese Buchbesprechung entstand für unser Schweizer Partnermagazin auf swiss-architects.com.
Das Interesse am zirkulären Bauen ist groß, nur zu gerne würden viele Architekturschaffende entsprechende Projekte umsetzen. Und doch findet die Arbeit mit gebrauchten Teilen nur ganz allmählich Eingang in die Praxis. »Bei der Sanierung Buchhalden haben wir mit Baubüro in situ den Versuch gemacht, gewisse Bauteile für eine weitere Nutzung zu sichern«, schreibt mir etwa Architekt Andreas Reinhardt, als ich ihn nach seinen Erfahrungen frage. »Leider hat dies dann logistisch nicht funktioniert. Ziemlich ernüchternd. Da muss sich noch viel bewegen.« Und von der deutschen Architektin Margit Sichrovsky erfahre ich: »Viele Projektentwickler haben sich in der Vergangenheit vermehrt für das Thema zirkuläres Bauen interessiert. Aber wenn es konkret wird, scheuen viele nach wie vor das Risiko und bauen doch lieber konventionell.« Dabei ist das Potenzial groß: Die Aufstockung der Halle 118 am Lagerplatz in Winterthur zum Beispiel sparte verglichen mit einem konventionellen Bauwerk 60 Prozent der grauen Energie und Treibhausgasemissionen. Zum Vergleich: Mit einem CO2-optimierten Holzbau lassen sich maximal 15 Prozent einsparen. Errechnet hat das Katrin Pfäffli, wie sie im Buch »Bauteile wiederverwenden. Ein Kompendium zum zirkulären Bauen« erklärt.
Foto: Elias Baumgarten
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Die Publikation erschien 2021, doch ist noch immer hochaktuell. Sie widmet sich der Wiederverwendung von Bauteilen ausgehend von der Umgestaltung der Halle 118 – nach wie vor das bekannteste Schweizer Gebäude, das vorwiegend aus gebrauchten Teilen besteht. Entstanden ist das Buch, weil sich die Stiftung Abendrot, eine Pensionskasse, die sich zu nachhaltigem Wirtschaften verpflichtet hat, als Bauherrin eine wissenschaftliche Aufarbeitung ihres Projekts wünschte. Diese übernahmen Forschende der ZHAW.
»Bauteile wiederverwenden« ist eines der besten Architekturbücher, die ich bisher gelesen habe: enorm dicht, fesselnd geschrieben und reich an Denkanstößen. Das einzige Haar in der Suppe ist der Druck im Ausland, der so gar nicht ins Bild passt. Doch geschenkt. Man findet im Buch eine Reportage über die Entstehung der Aufstockung, Essays, Debatten und konkrete Hilfestellungen für alle, die selbst mit gebrauchten Teilen gestalten möchten. Besonders geblieben sind mir die lebhaften Diskussionen zwischen Fachleuten aus unterschiedlichsten Disziplinen. Aus ihnen erfährt man nämlich, warum das zirkuläre Bauen trotz seines ökologischen Potenzials noch längst nicht im Mainstream angekommen ist und welche Schritte nottäten. Während wir zum Beispiel strenge Grenzwerte für den Wärmeschutz festgelegt haben und penibel auf die Betriebsenergie achten, fehlt eine ganzheitliche Betrachtung, die die Erstellung in gleichem Maße berücksichtigt. Gefordert wird im Buch deswegen ein Grenzwert für die graue Energie – das könnte Re-Use bedeutend attraktiver machen. Auch sind neue Bauteile heute viel zu günstig: »Die Entsorgung zum Beispiel müsste bei der Herstellung voll bezahlt werden«, sagt Kerstin Müller von Baubüro in situ in einer der Debatten. »Das würde dem Material wieder einen realistischen Preis geben.« Keine Frage: Solange Neuware trotz der Verschwendung grauer Energie günstiger ist als gebrauchte Teile, meinen wir es ganz offensichtlich nicht ernst mit dem Klimaschutz. Tina Puffert, die in der Immobilienabteilung der Stiftung Abendrot arbeitet, fordert derweil dazu auf, Werte und Prioritäten zu überdenken: »Unsere Bauten müssen inzwischen unglaublich viel können. Das fängt bei den Behördenauflagen für Schallschutz und Brandschutz, Barrierefreiheit etc. an und ist mit den Komfortstandards, die wir ansetzen, nicht zu Ende. Der Preis – vor allem auch der ökologische – für diesen Luxus ist mittlerweile einfach viel zu hoch.« Und Andreas Sonderegger, Co-Leiter des Instituts Konstruktives Entwerfen der ZHAW, platziert an dieser Stelle eine spitze Bemerkung: »Oft ist in den Normenkommissionen die Baustoffindustrie prominent vertreten. Zugespitzt könnte man behaupten, dass die Hürden, die das Bauen mit gebrauchten Bauteilen überwinden muss, von jenen aufgestellt werden, die uns die neu gefertigten Konkurrenz-Produkte verkaufen wollen.« Die Lektüre des Buches lässt übrigens, das sei hier ergänzt, den Rückschluss zu, dass das zirkuläre Bauen zu einer Umverteilung führt: Statt großer Konzerne verdienen heute vor allem lokale Kleinbetriebe an der Bergung und Aufbereitung alter Bauteile.
Foto: Elias Baumgarten
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Projekte wie die Aufstockung der Halle 118 bieten großes Potenzial zur Bekämpfung des Klimawandels. Sollen sie keine Ausnahmen bleiben, ist noch viel zu tun. Und in Anbetracht des hohen Handlungsdrucks wünschte man sich, die in »Bauteile wiederverwenden« vorgebrachten Forderungen seien inzwischen erfüllt, das Buch quasi überholt. Doch dem ist nicht so – wie war das noch mit dem Netto-Null-Ziel, das wir in der Schweiz bis 2050 erreichen wollten? Immerhin: Zaghaft tut sich doch etwas. Erste Wettbewerbe sind entschieden, bei denen die Wiederverwendung gebrauchter Teile explizit verlangt war. Und die Forderung nach Grenzwerten für die graue Energie bei Um- und Neubauten ist in der Politik angekommen: zum Beispiel als Bestandteil einer parlamentarischen Initiative, die die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrates voriges Jahr eingebracht hat, um die Schweizer Kreislaufwirtschaft zu stärken. Darin übrigens auch enthalten ist die Idee, gebrauchte Teile von der Mehrwertsteuer zu befreien. Ein Hoffnungsschimmer. Trotzdem: »Bauteile wiederverwenden« bleibt aktuell und gehört als Inspirationsquelle, Nachschlagewerk und Denkanstoß in die Bürobibliothek.
Foto: Elias Baumgarten
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Bauteile wiederverwenden. Ein Kompendium zum zirkulären Bauen
IKE Institut Konstruktives Entwerfen, ZHAW Departement Architektur, Eva Stricker, Guido Brandi, Andreas Sonderegger, Baubüro in Situ AG, Zirkular GmbH, Marc Angst, Barbara Buser, Michel Massmünster (Hrsg.)
215 x 285 Millimeter
344 Páginas
455 Illustrations
Gebunden
ISBN 978-3-03860-259-0
Park Books
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