Wenn Blicke Landschaften erzeugen
Susanna Koeberle
29. mai 2023
Die Arbeit »Dusty Buddy« von Sonia Leimer ist im Augustus-Tempel von Pula zu sehen. Die Künstlerin sammelte dafür Staubpartikel in der kroatischen Stadt, vergrößerte diese und ließ sie in Aluminium und Bronze gießen. (Foto: Jules Spinatsch)
Die vierte Biennale für Industrial Art in Istrien trägt den Titel »Landscapes of Desire«. Kuratiert wurde sie von Christoph Doswald und Paolo Bianchi. Sie begaben sich auf eine Reise durch ein vertrautes und doch unbekanntes Terrain.
Landschaften sind wie Bücher, man kann sie lesen. Die Buchstaben dieses Buches sind allerdings speziell, denn manche sind ganz deutlich lesbar, andere sind nur mit Mühe zu entziffern. Man muss jedenfalls genau hinschauen, denn Landschaften sind komplexe Phänomene – und eben nicht idyllische Natur, wie dies unsere auf Ordnung und Harmonie getrimmten Blicke gerne hätten. Landschaften entstehen in einem langsamen kulturellen Prozess und enthalten mannigfaltige Spuren menschlicher Interventionen, unglücklicher Schicksale und glücklicher Fügungen. All das bleibt eingeschrieben in Bauten, Kultur, Essen, Sprache und ganz allgemein in Materie per se. Für diese multiplen Schichtungen und Verbindungen möchte die vierte Industrial Art Biennial (IAB) in Istrien sensibilisieren, die dieses Jahr vom 13. Mai bis zum 30. Juni unter dem Titel »Landscapes of Desire« stattfindet.
Die beiden Schweizer Kunsthistoriker Christoph Doswald und Paolo Bianchi, die Kuratoren der Schau, luden 29 Künstler*innen ein, für die vier kroatischen Städte Pula, Labin, Raša und Rijeka ortsspezifische Arbeiten zu entwickeln oder zu zeigen. Ziel war es, die Schichtungen dieses geschichtsträchtigen Territoriums mit künstlerischen Mitteln zu durchdringen. Istrien scheint dafür ein dankbares Feld zu sein, denn die Gegend ist durch drei wichtige europäische Kulturen geprägt, namentlich die römische, die slawische und die germanische. Die istrische Halbinsel gehört heute hauptsächlich zu Kroatien, ein kleiner Teil davon liegt in Slowenien. Zudem gehört die italienische Stadt Muggia dazu. Schon die unterschiedlichen Namen der Ortschaften indizieren, dass sich diese Gegend in einem permanenten Wandel befand. Die Region zeigt Spuren von Migration, Industrialisierung, Nationalismus, Krieg und Globalisierung, die bis heute lesbar sind. Landschaften finden immer im Plural statt, denn die Landschaft gibt es nur in unseren Köpfen. Landschaften sind gleichsam Vexierbilder.
Ein silbernes Band zeichnet den Horizon in der Landschaft neu. Diese Arbeit stammt von Rapahel Hefti. (Foto: Jules Spinatsch)
Ein konkretes Beispiel für das Vexierbildhafte von Landschaften ist die Arbeit des Schweizer Künstlers Raphael Hefti. In einem Tal unweit der Minenstadt Raša hat er ein 320 Meter langes Band von einer Erhöhung zur anderen gespannt. Unter dem silbern schimmernden Streifen grasen bei unserem Besuch einige Esel, man hört Vögel zwitschern, zwischendurch wird die idyllische Stimmung unterbrochen durch ein vorbeifahrendes Auto. Was daran Kunst sein soll, hört die Schreibende schon munkeln. Nun, es ist Kunst und sogar großartige. Wenn sich das zweifarbige beschichtete Polyethylen-Band im Wind bewegt und dabei silbern schimmert, erleben Betrachter*innen eine Art Fata Morgana: Man weiß nicht recht, ob man nun träumt oder sich da tatsächlich etwas Paranormales ereignet. Es ist, als hätte Hefti entschieden, den Horizont neu zu zeichnen, und sei dabei auf einen Trip geraten. Darauf lässt jedenfalls der Titel schließen: »As yet untitled or is it about wind, impatience, hallucination, neo-horizon, I love silver, skin veneer over a landscape whose air it splits«.
All das macht diese Kunst auch mit uns, auch wenn sie »nur« aus einem gespannten Band besteht. Was aber so simpel daherkommt, gründet in Wahrheit auf einer langen Recherche und war extrem aufwendig umzusetzen. Es galt ein Material zu finden, das stabil ist und immense Spannung aushält. Hefti stieß nach langem Suchen auf einen Hersteller in Schaffhausen, der den speziellen Stoff weben konnte. Auch für das Installieren war der Künstler auf fachmännische Hilfe angewiesen. Glücklicherweise fand er vor Ort einen Spezialisten, der das Band mit einer besonderen Halterung fixieren konnte. Dabei ist es nicht unwichtig anzumerken, dass dieses Tal durch menschliche Interventionen geprägt ist.
Die Arbeit »Point of Interest« von Karin Sander auf dem Kirchturm von Raša (Foto: Jules Spinatsch)
Während der Zeit des Faschismus, als Istrien noch zu Italien gehörte, wurde das Tal trockengelegt. Sodann wurde dort mit Raša innerhalb von nur 547 Tagen unter der Leitung und nach den Plänen des jüdischen Architekten Gustavo Pulitzer Finali (1887–1967) eine ganze Stadt aus dem Boden gestampft. Minenarbeiter und ihre Familien sollten dort untergebracht werden. Der Bedarf an Eisenerz und Kohle stieg in Kriegszeiten massiv an. Heute wirkt die Stadt, die mittlerweile unter Schutz steht, fast etwas gespenstisch. Als Location für künstlerische Interventionen ist sie allerdings perfekt, die kroatische Schriftstellerin Tatjana Gromača bezeichnete Raša sogar als Gesamtkunstwerk.
Das ganze Areal scheint beseelt von der Vergangenheit, und wenn man herumirrt, um die unterschiedlichen Werke zu finden, meint man, Teil eines Films zu sein. Betritt man etwa das verlassene Verwaltungsgebäude der einstigen Fabrik, in dem singende Kinderstimmen wie von weit her erklingen, stellt sich ein merkwürdiges Zeitgefühl ein, eine Art Gleichzeitigkeit von disparaten Zeiten. Olaf Nicolai nennt seine Soundinstallation »Ko Li Aja« – nach dem kroatischen Fußballer Marko Livaja, dessen Namen kürzlich über dem Eingang des Gebäudes getaggt wurde. Nicolai hat die Tonspur mit dem Kinderchor der italienischen Community von Raša aufgenommen, die versucht, das Erbe der Stadt zu bewahren.
Gleich beim Eingang in die Stadt befindet sich die Kirche, die der heiligen Barbara geweiht ist, Patronin der Minenarbeiter. Der Bau ist ein architektonisches Juwel, welches das Können Gustavo Pulitzer Finalis beweist. Auf dem Kirchturm hat die deutsche Künstlerin Karin Sander, die an der ETH Zürich lehrt und Co-Kuratorin des Schweizer Pavillons an der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig ist, eine vier Meter hohe Neonskulptur installiert, ein Hybrid zwischen dem bereits bestehenden Kreuz und dem Google-Zeichen für »Point of Interest«. Auch hier findet eine Überlagerung von Schichten statt: Das Kreuz, das übrigens aus Gleisen der Minen hergestellt wurde, steht für ein archetypisches Symbol, das zugleich auch der Orientierung diente. Das »POI« ist quasi das digitale Gegenstück dazu. Vielleicht schwingt dabei auch eine Kritik an den damit verbundenen Dogmen mit.
Für die Arbeit »Ko Li Aja« arbeitete Olaf Nicolai mit dem italienischen Kinderchor von Raša zusammen. (Foto: Jules Spinatsch)
Ebenfalls durch Gustavo Pulitzer Finali inspirieren ließ sich der schweizerisch-dänische Künstler Cristian Andersen für seine mehrteilige Installation, die in einem ehemaligen Fischladen in Labin situiert ist. Von Weitem sah man am Eröffnungsabend im Kulturzentrum von Labin nur ein geheimnisvoll leuchtendes grünes Licht. Auch bei Tageslicht strahlt das Kunstwerk eine merkwürdige Melancholie aus, das Ganze wirkt wie eine Bühne für ein Ibsen-Stück. Präzise hat der Künstler einzelne Elemente in die bestehende Szenerie eingefügt und damit ein Setting geschaffen, das an die Zeit des italienischen Designers und Architekten anknüpft, ohne diese aber allzu explizit zu zitieren. Bewusst beließ Andersen die etwas verwahrloste Atmosphäre des Ortes, was die Poesie der einzelnen Elemente, etwa der fast surreal anmutenden Keramikobjekte, noch verstärkt.
Manchmal haben subtile Verschiebungen eine fast stärkere Wirkung als große Gesten. Das ist auch bei der Arbeit »A Hole in the Sky« von Vanessa Billy der Fall, die zunächst kaum auffällt. Ein 40 Meter hoher Kamin in Labin trägt eine Art Schlaufe oder Gurt aus Gummi. Die Materialisierung verweist auf die industrielle Vergangenheit des Bauwerks, während die Form als Mischung zwischen Riesennudel und mysteriösem Objekt aus dem Weltall erscheint. Der derart geschmückte Turm mutiert flugs zur Riesenskulptur.
Die Installation »Milk for flowers« von Cristian Andersen in einem ehemaligen Fischladen in Labin (Foto: Jules Spinatsch)
Auch in Pula, das wir später besuchen, spielt eine Arbeit von Lara Almarcegui mit der feinen Grenze zwischen Kunst und Alltagsobjekt. Die spanische Künstlerin stapelte am Hafen der Stadt, die schon in der Antike besiedelt war (davon zeugt etwa ein eindrückliches Amphitheater), mehrere Blöcke aus dem typischen istrischen Naturstein (Pietra d’Istria) aufeinander. Die schiere Materialität des bekannten Kalksteins, der zu den Exportgütern Istriens gehört, verstört zunächst. Sie erinnert uns daran, dass jede Materie einen Ursprungsort hat, aber auch, dass sie gewaltsam der Erde entnommen wird, um menschlichen Zwecken zu dienen. Dadurch bekommt die Arbeit auch eine politische und kritische Konnotation. Man schwankt beim Betrachten der Steinblöcke zwischen Traurigkeit und Staunen – und das ist vielleicht, was Kunst am besten kann: Menschen in unerklärliche Zustände zu versetzen; oder Momente der Reflexion auszulösen, ohne dabei Theorie konsumieren zu müssen. Die »Botschaften« der Arbeiten erschließen sich ganz instinktiv.
Oder sogar physisch: Etwa beim Beitrag der Schweizer Künstlerin Sandra Knecht, die eigens für die Biennale ein dreigängiges Menu kreierte. Auf einer Recherchereise im Vorfeld besuchte sie Märkte in Pula und Labin. Dort tauschte sie sich mit Bäuerinnen und Ladenbesitzer*innen über typische Gerichte und Produkte der Region aus. Ihre eigene Interpretation dieses vielschichtigen Territoriums kann man sich während der Dauer der Biennale in zwei Restaurants einverleiben. Damit entsteht ein Austausch zwischen »Eigenem« und »Fremden«, der wesentlich zum Charakter dieser Gegend gehört. Knecht reflektiert damit auf unmittelbare Weise die Komplexität von Landschaften. Es gibt in ihrer Kunst keine Trennung zwischen Menschen und nichtmenschlichen Akteur*innen.
Die Kunstwerke der IAB handeln von alten und neuen Gemeinschaften, aber auch von verborgenen und manifesten Widersprüchen. Die Denkarbeit, diese Gegensätze aufzuspüren, entsteht durch unsere Blicke, welche wiederum die »Landscapes of Desire« stets neu transformieren. Es ist ein Glücksfall, wenn dieser Dialog so lehrreich und inspirierend sein kann.