Architektur von den Rändern her denken

Susanna Koeberle
23. Juni 2023
Stanislaus von Moos (Foto: © Bundesamt für Kultur BAK, Florian Spring)

Instagram kann verräterisch sein – auch im positiven Sinne. Was eine Person auf ihren Account stellt, sagt auch etwas aus über die Art und Weise, wie sie auf die Welt blickt. Im konkreten Falle mag die Erwähnung des Instagram-Accounts zu Beginn eines Porträts über Stanislaus von Moos (*1940) vielleicht etwas erstaunen. Doch was sind Fotografien anderes als gerahmte Blicke? Man könnte also besagte Posts durchaus als aufschlussreiche Hinweise auf den kritischen und wachen Geist des emeritierten Professors für Kunstgeschichte lesen. In den Bildern verdichten sich mehrere Eigenschaften, die auch die Arbeit von Stanislaus von Moos charakterisieren. Etwa die Fähigkeit zur undogmatischen Analyse der gebauten Umwelt sowie von kulturellen Artefakten aller Art. 

Eigentlich komme er aus dem Feuilleton, gesteht der Kunsthistoriker im Gespräch. Aus dem Munde eines Akademikers hört sich das zunächst fremd an. Das Verfassen von Texten für das Feuilleton erscheint nämlich aus dieser Warte als eine Tätigkeit, die wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt und deswegen auch im Vergleich zum traditionellen akademischen Text eher als Fußnote daherkommt. Für das Feuilleton schreiben war etwas, das namhafte Akademiker*innen früher betrieben, wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hatten und sich etwas vom Ernst ihres universitären Wirkens und Waltens ablenken wollten. Heute haben sich die Bedeutung und die Rolle des Feuilletonteils der Zeitungen gewandelt – nicht nur zum Guten. Auf die Details einzugehen, würde an dieser Stelle aber vom Thema ablenken. 

Feuilletonistische Texte wollen gelesen werden und sollen auch unterhalten, sie haben mitunter sogar literarischen Charakter. Sie sind vielleicht das, was die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari kleine Literatur nannten – Texte also, die keiner festgeschriebenen Struktur folgen, sondern durchaus subversiv sein können. Nun aber zurück zu den Bildern, die in meinen Augen den Vergleich mit der Textgattung zulassen, deren Beherrschung von Moos mit zahlreichen Publikationen unter Beweis gestellt hat. Die Posts haben zwar mehr etwas von Schnappschüssen als von professionellen Fotografien. Darum geht es ihrem Urheber auch nicht. Sie dokumentieren vielmehr den Alltag eines Reisenden und vielseitig Interessierten und offenbaren unerwartete – zuweilen auch banale – Details, die das aufmerksame Auge des Kunsthistorikers und Architekturtheoretikers in Bildern festgehalten hat. Teilweise ist darin auch das Interesse für Themenfelder zu erkennen, die in seinen Schriften auftauchen: etwa städtebauliche Fragestellungen, aber ebenso die Rolle des Zufalls bei der Entstehung der gebauten Umwelt. Dabei fällt auf, dass von Moos keine Unterscheidung macht zwischen Hoch- und Trivialkultur. Oder vielmehr: Er nimmt beide Ausprägungen als gegeben und analysiert das opake Ineinandergreifen diverser kultureller Phänomene. Durch seine Augen lässt sich gleichsam auch eine Geschichte des Sehens ablesen. Denn als Kunsthistoriker weiß von Moos natürlich, dass die menschliche Wahrnehmung eben eine kulturell geprägte, veränderliche Größe ist.

In diesem Büro mutieren Verpackungen von Druckerpatronen zu Hochhäusern. (Foto: © Bundesamt für Kultur BAK, Florian Spring)

Stanislaus von Moos wuchs in einer kunstaffinen Familie auf. Sein Onkel war der surrealistische Maler Max von Moos, sein Vater war unter anderem Leiter der Innerschweizer Sektion des Werkbundes. So ist es zumindest kein Zufall, dass ihn Themen wie Wohnkultur, Architektur und Kunst schon von Kindesbeinen an umtrieben. Seinen ersten Artikel für eine Lokalzeitung schrieb er über die Siedlung Halen von Atelier 5, notabene bevor das später bekannt gewordene Projekt in Bern fertiggestellt war. Ihn habe die Siedlung als nächstmögliche Verwirklichung von Le Corbusiers Wohnutopie fasziniert, erzählt er. Le Corbusier (1887–1965) ist für den Werdegang des Autors von Bedeutung, denn 1968 – da war er erst 28 – schrieb er mit »Le Corbusier: Elemente einer Synthese« die erste kritische Gesamtdarstellung des bekannten Schweizer Architekten nach dessen Tode, die bis heute als Standardwerk gilt. Dieses erste Buch eröffnete gleichsam den Reigen zu einer erfolgreichen Karriere als Lehrer, Wissenschaftler, Autor und Kurator. 

1971 gründete er zusammen mit Hans Reinhard die Zeitschrift archithese und verwandelte ein bescheidenes Fachblatt in eine ernst zu nehmende theoretische Plattform. Während der ersten fünf Jahre und in über 24 Ausgaben profilierte sich archithese unter anderem mit kritischen Beiträgen zu politischen und theoretischen Aspekten des Städtebaus und der Denkmalpflege. Aus der Verbindung von archithese mit der Architekturzeitschrift Werk entstand 1977 die Zeitschrift werk archithese, die von Moos in den darauffolgenden drei Jahren leitete, zunächst gemeinsam mit Diego Peverelli.

Es folgte eine langjährige Lehrtätigkeit, die ihn von Harvard über die EPFL und die TU Delft nach Zürich führte, wo er ab 1983 bis zu seiner Emeritierung 2005 die neu geschaffene Professur für moderne und zeitgenössische Kunst innehatte. Auch danach war er als Pädagoge tätig, etwa an der Accademia di architettura in Mendrisio sowie an der Yale University. 

Stanislaus von Moos war als Redaktor auch für die Umschlaggestaltung von werk archithese zuständig. (Foto: © Bundesamt für Kultur BAK, Florian Spring)

Seine zahlreichen Publikationen, die häufig als Sammlungen von verschiedenen Texten – von feuilletonartigen, kleinen Literaturen eben – erschienen, prägen bis heute sowohl den Schweizer als auch den internationalen Architekturdiskurs. Nichtsdestotrotz ist von Moos eine bescheidene Persönlichkeit, die sich im Gespräch als humorvolles Gegenüber erweist. Etwa, wenn er auf seinen Wohnort angesprochen von sich sagt, er komme sich dort manchmal selbst wie ein Exponat vor. Stanislaus von Moos lebt seit über 35 Jahren in einer Ikone des Neuen Bauens im Zürcher Doldertal und nennt die Gegend »das Ballenberg der Schweizer Moderne«, in dem alle heute praktizierbaren Utopien versammelt seien – vom Birchermüesli (wegen der Bircher-Brenner-Klinik) bis zu Hare Krishna. Der Architekturhistoriker schließt diesbezüglich die Architektur nicht aus, denn er versteht diese eben auch als Symptom. Jede Wohnform trägt Spuren von Ideologien in sich. 

Wie von Moos diese aufspürt, sie ohne zu werten analysiert und kontextualisiert, beweist nicht nur sein Wissen, sondern überdies seinen Mut, Widersprüche als solche stehen zu lassen – im Zeitalter dogmatischer Verhärtungen keine Selbstverständlichkeit. Die in seinen Beiträgen praktizierte Dekonstruktion sieht er nicht als »Vernichtung« eines Gegenstandes, sondern als Blick auf die andere Seite der Dinge. Dass sein zweiter Wohnort ein Chalet am Vierwaldstättersee ist, passt so gesehen. Auch das Chalet ist nämlich behaftet mit multiplen Klischees: Einerseits ist es Sinnbild einer nostalgischen Überhöhung, andererseits steht es für die Ablehnung einer als Heimatstil verschrienen Typologie. Diese Ambivalenz schält von Moos etwa in seinem 2002 geschriebenen Aufsatz »Chalets und Gegenchalets. Über Nostalgie, Design und Identität in der Schweiz« heraus. Großartig, wie da Brücken geschlagen werden zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Diskursen! Man könnte manchmal meinen, von Moos sei von Haus aus Anthropologe. Und er schafft es auch noch, die Fülle an Informationen in eine leichtfüßige Sprache zu verpacken. 

Der Kunsthistoriker interessiert sich für die Geschichte des Sehens. (Foto: © Bundesamt für Kultur BAK, Florian Spring)

Auch sein neustes Buchprojekt, das in Zusammenarbeit mit Arthur Rüegg entstand und noch diesen Sommer erscheinen soll, führt den diskursiven Weitblick auf das Schweizer Architekturschaffen vor. Diesmal konzentriert sich die Publikation auf einen anderen Schweizer Mythos, nämlich das Architektenduo Herzog & de Meuron. Die Arbeit des Büros stellt sich als ideales Exempel heraus, um zu zeigen, welchen Einfluss die Geschichte des Sehens auf die Konzeption von Architektur hat. Das macht insofern Sinn, als sich Herzog & de Meuron explizit auf die Kunst beziehen und schon häufig mit Künstlern zusammengearbeitet haben. Aus den über 600 Bauten fiel die Wahl der beiden Autoren auf 25 Werke, die im Buch auch fotografisch breit dokumentiert werden, unter anderem mit Bildern von Pierre de Meuron. Der Kunsthistoriker fokussiert dabei auf die Rolle der Imagination in der Architektur des legendären Büros. Die ästhetische und visuelle Ebene ihrer Bauten wird dabei einer kritischen Betrachtung unterzogen, wobei sich bei allem Hinterfragen stets auch die Faszination für ihr Werk manifestiert. 

Auf den Prix Meret Oppenheim und die Bedeutung des Werks der Schweizer Künstlerin angesprochen, hebt von Moos als erstes eine Arbeit im öffentlichen Raum hervor, und zwar den sogenannten Oppenheimbrunnen am Waisenhausplatz in Bern. Dieser verändere sich bei jedem Besuch, wie er betont; der siloartige Pfosten sei auch städtebaulich interessant. Stanislaus von Moos war viele Jahre in der Kunstkommission der Stadt Zürich tätig und brachte dort sein kritisches Urteil ein. Er weiß, was es bedeutet, Kunst aus ihrer White-Cube-Blase zu befreien, also auch, wie viel Widerstände man dabei überwinden muss. Das Brunnen-Werk von Meret Oppenheim sei für ihn eines der wenigen gelungenen Monumente im öffentlichen Raum. Was er in der Kombination von kultischer Architektur (er vergleicht den Brunnen mit dem Omphalos von Delphi) und lebendigem Biotop erkennt, ist paradigmatisch für seine Sicht auf die Welt. Diese versteht es, gegensätzliche Pole und gegenstrebige Fügungen zu erkennen und zu vermitteln.

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