Wenn Sprache stärker ist als Bilder
Elias Baumgarten
15. Juli 2021
Foto: Elias Baumgarten
Sie bewegen, wühlen auf, machen zum Augenzeugen, setzen sich in den Gedanken fest, zwingen zur Auseinandersetzung – die Reportagen von Margrit Sprecher sind faszinierend. Mit »Irrland« ist eine neue Sammlung erschienen.
Wer liest eigentlich noch Reportagen? In Zeiten von Online-Newsportalen, von YouTube und Social Media scheint die einstige Königsdisziplin des Journalismus hoffnungslos altmodisch, eine vom Aussterben bedrohte Gattung. Wozu denn noch mit langen, umständlich vor Ort recherchierten Texten herumplagen, wenn man mit ein paar Klicks eine Flut von Bildern und Filmmaterial für Tage haben kann? Vielen ist das Lesen längst zu anstrengend geworden. Hinzu kommt der immer größere Kostendruck im Journalismus, der dazu führt, dass gerade an aufwendigen Formaten und bei weniger massentauglichen Inhalten gespart wird. Und trotzdem: Die Reportage ist nicht tot. Warum, das machen die ausgesuchten Beiträge von Margrit Sprecher begreiflich, die im neuen Buch »Irrland« (2020) zusammengetragen sind. Die Schweizer Ausnahmejournalistin, die 2016 den Swiss Press Lifetime Achievement Award erhielt und heute, inzwischen Mitte 80, noch immer schreibt, zeigt, welch enorme Kraft Sprache entfalten kann – mitunter ist sie stärker als Bilder. Man bleibt staunend und tief beeindruckt zurück.
Foto: Elias Baumgarten
Gleich die erste Geschichte ist so fesselnd wie bedrückend: »Ein Gefängnis namens Gaza« sei eine ihrer traurigsten Reportagen, sagte Margrit Sprecher dem SRF während einer Dokumentation anlässlich ihres 80. Geburtstags. Sie selbst war damals so bewegt, dass sie anschließend für einige Jahre drei palästinensische Kinder finanziell unterstützte. Der Beitrag, der 2002 in der Weltwoche erschien und vom Leben palästinensischer Zivilisten erzählt, von ihrem Alltag geprägt von Perspektivlosigkeit, Verzweiflung, Armut und den Drangsalierungen israelischer Soldaten und Siedler, lässt einen mit einem mulmigen Gefühl zurück, das irgendwo zwischen Wut und Traurigkeit angesiedelt ist. Man fühlt sich unwillkürlich an Eyal Weizmans Buch »Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung« (2009) erinnert. Es erzählt aus architektonisch-nüchterner Perspektive von denselben Sachverhalten. Nein, Sprechers Reportagen sind nicht neutral; sie bezieht Position, ergreift Partei. »Wenn etwas ausgewogen ist, kann niemand etwas dafür oder dagegen sagen«, erklärt sie, »man muss so subjektiv wie möglich sein«. Eine Reportage müsse einen persönlichen Blick haben. Erst dann könne der Leser eine eigene Meinung entwickeln.
Sprecher sagt nicht vor, was ihre Leser zu denken haben. Mit dem Belehrungsjournalismus, den man heute im deutschen Sprachraum leider immer wieder findet, haben ihre Beiträge rein gar nichts zu tun. Doch sie legt den Finger in die Wunde und zeigt Dinge, wie sie sind, nicht wie wir sie gerne hätten. Ihr Beitrag »Die Front am Krankenbett« (NZZ am Sonntag, 2005) über den »Todespfleger« Roger A., der in einem Luzerner Betagtenheim 24 Menschen tötete, ist zum Beispiel ein Rundumschlag. Sie kritisiert den Prozess im Eiltempo, der keinerlei Licht ins Dunkel brachte und nicht erkundete, wie es zu den Taten kam. Sie beleuchtet Parallelen zu vergleichbaren Fällen im Ausland, in Wien und im bayerischen Sonthofen. Sie widmet sich den miserablen Arbeitsbedingungen in der Pflege, der schlechten Bezahlung und der fehlenden Wertschätzung, aber auch dem bereitwilligen Wegschauen unter Kollegen. Selbst die Hinterbliebenen nimmt sie sich mit spitzer Feder vor. Sie schreibt: »Ein Siebzigjähriger, der die Verbundenheit mit seiner Mutter mit Praliné-Geschenken bei seinem monatlichen Besuch unterstrich, forderte 20000 Franken Entschädigung für die ärztliche Hilfe, die er nach dem Schock benötigte. […] Und drei Söhne verlangten insgesamt 1,6 Millionen Franken für ihre greise Mutter. Allein der Versuch, ihre Betroffenheit zu formulieren, habe sie, so listeten sie auf, zehn Stunden Schreibarbeit gekostet.« Sprecher ist stets kritisch, auch wenn manche das gehässig oder herablassend finden mögen. Wenn sie in »Tote, noch immer am Leben« (Weltwoche, 2004) über einen Kongress mit irrtümlich zum Tode Verurteilten in Chicago schreibt und die amerikanische Justiz angreift, die Geschichten produziert, die sie an »Protokolle aus einem rückständigen, barbarischen Drittweltland« denken lassen, spart sie auch mit Kritik an hysterischen Menschenrechtsaktivisten nicht.
Bekannt gemacht haben Sprecher vor allem auch ihre vielen Porträts, in denen sie mit Worten ungeschönte Bilder von Persönlichkeiten zeichnet. Natürlich sind im Buch einige besonders interessante Exemplare zu finden. Etwa »Dienstleister in tödlicher Mission« (Die Zeit, 2010) über den Dignitas-Gründer Ludwig A. Minelli, für den Sterbehilfe »das letzte Menschenrecht« ist. Beim Lesen entsteht das Bild eines Mannes mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, aber auch eines trotzigen, rachsüchtigen Provokateurs mit zweifelhaftem Geschäftsmodell.
Foto: Elias Baumgarten
Das Buch ist keine leichte Kost, sondern Futter für den Geist. Als Lektüre für das Freibad oder den Strand eignet es sich nicht. Die 20 Reportagen ergeben ein zuweilen sehr unbequemes Bild der heutigen Gesellschaft, das nicht unbedingt zum Menschenfreund macht. Manche werden die Texte emotional packen, manche werden Sprechers Positionen wütend ablehnen, andere werden lauthals ausrufen wollen: »Genau so ist es!«. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen möchten wir »Irrland« als Lesestoff für die Ferienzeit empfehlen. Einmal angefangen, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Und die Geschichten einfach zu lesen, ohne über sie nachzudenken, ist unmöglich. Sprechers kunstvoller Umgang mit Sprache, ihre Beobachtungsgabe und ihr wacher Intellekt wirken inspirierend und stimulierend.
Irrland
Margrit Sprecher
272 Seiten
Gebunden mit Leseband
ISBN 9783038209768
Dörlemann
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